Gegen Holland geht es für Julian Nagelsmann um den Beweis, dass das neue Hochgefühl gegen einen großen Gegner stabil ist. Der Bundestrainer schwelgt in Erinnerungen, nur der Torgarant macht Sorgen.
Die mehrfachen Fragen nach seiner Aufstellung wurden Julian Nagelsmann irgendwann zu viel. "Zehnmal" könne noch nachgehakt werden, er wolle nichts weiter sagen. Das Fragezeichen um einen möglichen Ausfall von Mittelstürmer Niclas Füllkrug gegen die Niederlande wegen Problemen an der Achillessehne war die einzige konkrete Information, die der Bundestrainer vor der Top-Partie gegen die Niederlande am Dienstag (20.45 Uhr/RTL) preisgab.
Und die Sorgen scheinen begründet: Der 31-Jährige ging nach elf Minuten beim Abschlusstraining nach einem kurzen Gespräch mit Nagelsmann begleitet vom Teamarzt vom Platz. Dicke blaue Tapes klebten an Füllkrugs linkem Unterschenkel. Ob der Abbruch so geplant war oder schon das Aus für Dienstag bedeutet blieb unklar.
Zuvor hatte der Bundestrainer viel lieber als über den Matchplan und eventuelle Ersatzoptionen diesmal über den grundsätzlichen Reiz des ewig brisanten Fußball-Klassikers gesprochen. "Wir wollen versuchen, einen Moment zu zaubern, der in Erinnerung bleibt", kündigte der 37-Jährige vor der Partie in der Nations League in Amsterdam an. Deutschland gegen Holland. Das habe schließlich auch ihn schon als Kind fasziniert.
In Erinnerung ist Nagelsmann - wie auch dem damals noch gar nicht geborenen Mittelfeld-Abräumer Robert Andrich - besonders das WM-Achtelfinale 1990 mit der Spuckattacke von Frank Rijkaard gegen Rudi Völler und dem doppelten Platzverweis für Sünder und Opfer damals beim 2:1 in Mailand. "Der, der im Bus jetzt immer neben mir sitzt", sprach Nagelsmann von Sportdirektor Völler als Zeitzeuge.
Nagelsmann mag Oranje
Ganz so viel Drama wie damals in San Siro muss es in der Johan-Cruyff-Arena diesmal nicht geben. Für Nagelsmann geht es vor allem um die Fortsetzung des Gute-Laune-Fußballs, der die Fans mit dem 5:0 gegen Ungarn gleich nach der Heim-EM wieder in Hochstimmung versetzt hat. Einfach wird es nicht, das machte der Bundestrainer schon deutlich. "Oranje ist eine schöne Farbe", fasste er umgeben von dem knalligen Farbton des Gastgebers zusammen, was die DFB-Elf erwartet.
Vorsicht? Ja. Sorgen? Sicher nein. Eher Vorfreude auf die nächste reizvolle Aufgabe. So sah es Joshua Kimmich. "Das wird ein anderer Gegner, ein spielstarker Gegner. Die Holländer sind schon anders als die Ungarn, das wird ein harter Gegner. Es wird interessant sein zu sehen, wie wir da agieren", sagte der Kapitän.
Einen Stimmungsabsturz gilt es gegen den mit Personal- und Wutdebatten um B-Stürmer Wout Weghorst und den aussortierten Steven Bergwijn gerade mit sich selbst beschäftigten Erzrivalen zu vermeiden. In der plötzlich lieb gewonnenen Nations League würde ein weiterer Sieg im Topspiel der Gruppe 3 der A-Liga zudem schon ein riesiger Schritt zur angestrebten Qualifikation für das Viertelfinale im März 2025 sein.
"Energie" der Ungarn-Gala mitnehmen
Die "Energie" wolle man mitnehmen, hatte Spaß-Fußballer Musiala angekündigt. Eine Vorgabe, die er wohl für den Oranje-Clash genau so von Nagelsmann bekommen hatte. Denn das ist das große Plus der Nationalmannschaft als Lerneffekt aus der Heim-EM: Es gibt eine Symbiose aus einem Bundestrainer, der vorgibt und klar anleitet. Und einem Team, das freudig aufsaugt und umsetzt.
Auf den Tag genau vor einem Jahr war das ganz ander. Da setzte es ein 1:4 gegen Japan. Hansi Flick war als Bundestrainer am Ende. Sportdirektor Völler rief erschöpft von seinem folgenden Ein-Spiele-Intermezzo gegen Frankreich (2:1) Nagelsmann als Retter herbei. Und die deutsche Fußball-Metamorphose nahm mit der November-Delle der Testpleiten gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) als einzigem Makel ihren Lauf.
Nur noch fünf Spieler aus der Startelf der Demütigung in Wolfsburg werden 367 Tage später in Amsterdam beim Anpfiff auf dem Rasen stehen. Seine Formation nach dem 5:0-Turbostart gegen Ungarn will Nagelsmann nicht großartig verändern. Ob Füllkrug einsatzfähig ist, war am Vorabend der Partie zumindest sehr fraglich. Sollte der frühere Dortmunder ausfallen, müsste Nagelsmann einen anderen Mittelstürmer aufbieten oder Kai Havertz wieder nach vorne ziehen und die Zehn neu besetzten.
Kontinuität ist in der Nach-EM-Phase für den Bundestrainer wie seinen Kapitän ein hohes Gut. "Ich habe schon das Gefühl, dass es uns extrem gutgetan hat, dass der Kader zusammengeblieben ist, dass man nicht bei null angefangen hat", sagte Kimmich. "Trotz der vier Jungs, die zurückgetreten sind, ist eine Basis da." Die "vier Jungs", die aufgehört haben, namentlich die starke Ü-30-Fraktion Manuel Neuer, Toni Kroos, Thomas Müller und Ilkay Gündogan, wird spätestens seit Samstagabend nicht mehr so fürchterlich vermisst.
Es drängte sich sogar der Eindruck auf, dass da noch mehr Homogenität in der verjüngten Gruppe herrscht. Lässig schlenderten die Spieler nach einem freien Nachmittag in Düsseldorf zu einem gar nicht so geheimen Abendessen mit Nagelsmann und Völler beim Italiener. Es wird viel gelächelt und gelacht bei der Nationalmannschaft.
Erste Auswärtsreise seit dem 2:0 in Frankreich
Die Anreise nach Amsterdam brachte auch für Kimmich dann ein fast schon vergessenes Gefühl zurück. Nach neun Heimspielen in diesem Jahr ging es für die DFB-Crew wieder auf Reisen. "Wann war denn unser letztes Auswärtsspiel?", musste der 29-Jährige sogar nachfragen. Die Antwort: Am 23. März in Frankreich, als Nagelsmann mit viel Mut einen radikalen Personalschnitt umsetzte. "Na, also. Da muss man sich ja keine Sorgen machen", entfuhr es Kimmich in Erinnerung an das famose 2:0 in Lyon.
Drei Tage später wurde erstmals in den damals noch als Innovation und Provokation gefeierten lila Trikots und mit Major-Tom-Tormelodie Holland 2:1 besiegt und der noch zarte Aufwärtstrend bestätigt. Auch das - zumindest unter Bundestrainer Nagelsmann ein Moment, der in Erinnerung geblieben ist.