3 months ago

Friedenspreis für Applebaum: "Ruf nach Pazifismus ist oft die Hinnahme der Diktatur"



Mit einem eindringlichen Plädoyer für Militär-Hilfen für Kiew hat die US-Historikerin Applebaum ihre Friedenspreis-Ehrung verbunden. Die Lektion der deutschen Geschichte könne nicht sein, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen.

Die US-polnische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum ist mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt worden. "In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden", heißt es in der Urkunde, die sie in der Frankfurter Paulskirche entgegennahm. Die 60-Jährige wird für ihre Analysen der kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands geehrt. In ihrer Dankesrede forderte Applebaum eine wehrhafte Demokratie und erinnerte zugleich an die historische Verantwortung Deutschlands. Es war zudem ein entschiedenes Plädoyer, die Ukraine auch weiterhin mit Waffen zu unterstützen.

Der Preisjury zufolge zählt Applebaum zu den wichtigsten Analytikerinnen autokratischer Herrschaftssysteme. Sie ist eine große Expertin der osteuropäischen Geschichte und warnte bereits früh vor einer möglichen gewaltsamen Expansionspolitik des russischen Staatschefs Wladimir Putin.

Mit Blick auf die russische Annexion der Krim 2014 sowie den Überfall auf die Ukraine 2022 sagte Applebaum, deren Ziel sei "die Durchsetzung autoritärer Willkürherrschaft: ein Staat ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Grundrechte, ohne Rechenschaftspflicht, ohne Gewaltenteilung". Zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine habe es rasche Hilfe und Unterstützung gegeben. Aber heute "stehen wir vor der größten Herausforderung für unsere Werte und Interessen zu unseren Lebzeiten, und die demokratische Welt schwankt", sagte sie.

Applebaum erhielt den Preis in der Frankfurter Paulskirche. Applebaum erhielt den Preis in der Frankfurter Paulskirche.

Applebaum erhielt den Preis in der Frankfurter Paulskirche.

(Foto: via REUTERS)

Viele wünschten sich, "der Krieg möge auf magische Weise enden". Doch "wer 'Pazifismus' fordert und nicht nur Gebiete an Russland abtreten will, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, der hat rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt", mahnte Applebaum. Es sei "die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte: Nicht, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürfen, sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen". Der Satz "Nie wieder!" mache blind für die Wirklichkeit.

"Narrative Linie kann Frontlinie werden"

Die Mitbegründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, Irina Scherbakowa, sagte in ihrer Laudatio, Applebaums Arbeiten seien "ein Frühindikator", fast alle ihre Bücher seien "vorausschauend" gewesen. Applebaum habe wie nur wenige davor gewarnt, "dass das, was als eine narrative Linie beginnt, in eine echte Frontlinie münden kann". An ihren Büchern sei "nicht nur ihre Zugänglichkeit und ihr aufklärerisches Pathos, sondern auch ihre politische Relevanz" besonders wertvoll.

Die Vorsitzende des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, würdigte Applebaum als Frau, die "mit bestechender Klarheit Position zur aktuellen Politik bezieht und die uns hilft, die Welt zu verstehen, wie sie ist". Zugleich räumte sie ein, dass Applebaums klare Haltung in der Frage nach militärischer Unterstützung Kiews Kritik an der Ehrung hervorgerufen habe.

"Das ist die Kultur des Friedenspreises", sagte Schmidt-Friderichs: "Wir dürfen uns an den Meinungen der Preisträgerinnen reiben. Wir sollten an ihnen wachsen." In der voll besetzten Paulskirche gab es für ihre Position viel Applaus.

"Die Verleihung des Friedenspreises ist vielleicht ein guter Moment, um darauf hinzuweisen, dass der Ruf nach Frieden nicht immer ein moralisches Argument ist", sagte Applebaum. "Es ist auch ein guter Moment, um zu betonen, dass die Lektion der deutschen Geschichte nicht sein kann, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen. Im Gegenteil: Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur."

"Das ist die eigentliche Lehre"

"Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen", sagte Applebaum. "Wenn wir die Möglichkeit haben, mit einem militärischen Sieg diesen schrecklichen Gewaltkult in Russland zu beenden, so wie ein militärischer Sieg den Gewaltkult in Deutschland beendet hat, dann sollten wir sie nutzen."

Für Deutsche sei es ungewohnt, wenn sie gebeten werden, Waffen zu liefern. "Doch das ist die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte", sagte Applebaum weiter. "Nicht, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürfen, sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen."

Zu Applebaums bekanntesten Werken gehören "Der Gulag", "Der Eiserne Vorhang" und "Die Verlockung des Autoritären". 2004 wurde sie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Carl-von-Ossietzky-Preis. Die 1964 in Washington D.C. geborene Applebaum studierte an der Yale University russische Geschichte und Literatur. In London und Oxford setzte sie ihren Schwerpunkt auf internationale Beziehungen. 1988 wurde sie Auslandskorrespondentin in Polen für die britische Zeitschrift "The Economist". Für die Zeitschrift berichtete sie über den Fall der Berliner Mauer.

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Später arbeitete sie unter anderem für die britischen Zeitungen "Evening Standard" und "Daily Telegraph". Zwischen 2002 und 2006 war sie Mitglied im Herausgebergremium der "Washington Post". Bis 2019 war sie für die Zeitung Kolumnistin. Sie nahm zudem an Programmen teil, in denen sie sich unter anderem mit Autokratien, Desinformation und Propaganda beschäftigte und lehrte an Universitäten in Großbritannien und den USA. Applebaum lebt mit Unterbrechungen seit 30 Jahren in Polen.

Der mit 25.000 Euro dotierte Friedenspreis wird seit 1950 vergeben. Er wird traditionell zum Ende der Frankfurter Buchmesse verliehen. 2023 erhielt ihn der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie. Die Organisation Memorial hatte vor zwei Jahren den Friedenspreis erhalten.

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