
Ein neuer Bundestag ist gewählt. Mit den Mehrheiten des alten Parlaments wollen Union und SPD aber noch umfangreiche Finanzpakete schnüren. Ist das vom Grundgesetz gedeckt? AfD und Linkspartei prüfen bereits Verfassungsklagen.
Von einem historischen Moment ist die Rede, von einem "Gamechanger": Union und SPD beschließen ein massives Finanzpaket. Verteidigungsausgaben werden weitgehend von der Schuldenbremse ausgenommen. Für Investitionen in die Infrastruktur wird ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro aufgelegt. Lob bekommen CDU, CSU und SPD für ihre Einigung. Kritik gibt es auch, aus politischer wie ökonomischer Sicht.
Doch ist es überhaupt legal, was die schwarz-roten Sondierer planen? Schon seit einigen Tagen, seit ein mögliches Sondervermögen und ein Aufweichen der Schuldenbremse im Raum stehen, wird über die Befugnisse des alten Bundestags diskutiert. Auf diesen sind die Parteien der Mitte angewiesen. Denn nur im scheidenden Parlament haben Union und SPD zusammen mit Grünen oder FDP eine nötige Zweidrittel-Mehrheit, um das Grundgesetz für ihre Vorhaben zu ändern. Im neuen Parlament wären sie zusätzlich auf Stimmen der Linken oder der AfD angewiesen. Die Zeit drängt also.
Aber ist das auch rechtssicher? Kurz gesagt: ja. Solange sich der neue Bundestag nicht konstituiert hat, ist das scheidende Parlament im Amt und voll beschlussfähig. Das gilt auch für Änderungen des Grundgesetzes - es gibt dabei keinerlei Einschränkungen oder ein Gebot der Zurückhaltung.
Das sieht auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter Michael Huber so. "Verfassungsrechtlich habe ich keinerlei Bedenken", sagte er dem "Stern". "Das Mandat des alten Bundestages währt bis zum Zusammentritt des neuen - und dies uneingeschränkt." Verfassungsrechtlich spreche überhaupt nichts dagegen, vor dem Zusammentritt des neu gewählten Bundestages mit den Stimmen des noch bestehenden Parlaments die Verfassung zu ändern, sagte Huber, der von 2010 bis 2022 dem Zweiten Senat angehörte.
Kritik von Parteien - und von Juristen
Doch es gibt eine Frist: Das neue Parlament muss spätestens 30 Tage nach der Wahl erstmals zusammentreten. Das wäre der 25. März - auf genau dieses Datum für die erste Bundestagssitzung der 21. Legislaturperiode haben sich die Fraktionen offenbar verständigt. Danach ist der alte Bundestag nicht mehr im Amt. Im Gegensatz zur alten Bundesregierung, die ab diesem Moment geschäftsführend tätig ist, bis ein neuer Kanzler oder eine neue Kanzlerin gewählt ist.
Protest an den Plänen von Union und SPD regt sich trotzdem: "Dadurch wird der Wählerwille, der bei der Bundestagswahl vor gut einer Woche zum Ausdruck gekommen ist und der neue Mehrheitsverhältnisse hervorgebracht hat, eindeutig missachtet", erklärten die AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla. Ihre Fraktion wolle die angekündigten Anträge "eingehend prüfen", sagten sie.
Auch die Linke hegt Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit. Es gehe nur darum, "die neu gewählten Verhältnisse im Bundestag zu umgehen", teilten die Spitzen von Partei und Fraktion mit. Das missachte den Willen der Wählerinnen und Wähler. "Wir prüfen noch, ob eine solche Abstimmung über mehrere Hundert Milliarden im gerade abgewählten alten Bundestag überhaupt verfassungskonform ist."
Doch auch unter Juristen ist der Spielraum des scheidenden Bundestags umstritten. "Es ist eine Frage nicht nur des politischen Anstandes, sondern auch des Respekts gegenüber dem jetzt bereits gewählten, aber noch nicht konstituierten Bundestag", sagte Kyrill-Alexander Schwarz, Verfassungsrechtler der Uni Würzburg, am Dienstag im "Brennpunkt" der ARD. Wenn der jetzige Bundestag Maßnahmen ergreife wie ein dreistelliges Milliardenpaket, dann entfalte das eine Bindungswirkung auch gegenüber einem späteren Parlament, das bereits gewählt worden sei. "Und diese Bindungswirkung für die Zukunft, die empfinde ich als überaus problematisch", so Schwarz.
Lehre aus der Weimarer Republik
Begriffe wie "politischer Anstand" und "Respekt" gehören zu einer demokratietheoretischen Debatte. Natürlich kann argumentiert werden, dass die Wählerinnen und Wähler gerade einen neuen Bundestag bestimmt haben, das alte Parlament also nicht mehr dem Willen des Souveräns, des Volkes entspricht. Der eilige Vorstoß von Schwarz-Rot hat in jedem Fall ein politisches Geschmäckle, der einen Vertrauensverlust zur Folge haben kann.
Jedoch ist das Grundgesetz darauf ausgelegt, während eines Regierungswechsels kein Machtvakuum entstehen zu lassen. Das ist eine Lehre aus der Weimarer Republik, in der Regierungen gestürzt wurden, ohne dass es neue Mehrheiten gab. Auch der Bundestag als Gesetzgeber muss jederzeit beschlussfähig sein. Solange das neue Parlament nicht zusammengetreten ist, üben die bisherigen Abgeordneten diese Funktion aus.
Ex-Bundesverfassungsrichter Huber verweist auf eine entsprechende Verfassungsänderung: "Der Artikel 39 des Grundgesetzes wurde im Jahr 1976 eigens präzisiert, um zu bekräftigen, dass die jeweilige Wahlperiode eines Bundestags immer erst mit der Konstituierung des nächsten Bundestags endet." Damit sei eine Interpretationsmöglichkeit beseitigt worden, dass es verschiedene Parlamente gäbe, die eigene Verfassungsgrößen seien.
Aber darf der Bundestag dann auch so einschneidende Entscheidungen treffen wie sie die Milliarden-Pakete und eine Grundgesetzänderung sind? Im Zweifelsfall muss darüber das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Da das Grundgesetz jedoch keine Einschränkungen vorsieht, ist wahrscheinlich, dass eine entsprechende Klage abgewiesen wird. Zumindest wären mit einer höchstrichterlichen Entscheidung alle Zweifel geklärt.
Neu sind Entscheidungen eines scheidenden Bundestags nach einer Wahl ohnehin nicht. 1998 reagierte das alte Parlament noch vor der Konstituierung des Nachfolgers auf Entwicklungen im Kosovo. Der alte Bundestag stimmte so erstmals für einen Kriegseinsatz der Bundeswehr. Auch das war eine gewichtige Entscheidung mit Bindungswirkung.