Viereinhalb Jahre nach den historischen Protesten gegen Diktator Alexander Lukaschenko finden in Belarus wieder Präsidentschaftswahlen statt. Von der Aufbruchsstimmung von 2020 ist nichts geblieben, die Opposition ist komplett zerschlagen, Lukaschenko beteiligt sich an Russlands Krieg gegen die Ukraine - und fühlt sich so fest im Sattel wie vielleicht noch nie. Der Machthaber könnte die Wahlen komplett abschaffen. Warum er das trotzdem nicht tut, erklärt Osteuropa-Experte Alexander Friedman im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Dass die Wahlen in Belarus gefälscht werden, ist kein Geheimnis. Wozu werden sie dann überhaupt noch abgehalten?
Alexander Friedman: Für Lukaschenko ist es eine Tradition. Auch in der Sowjetunion wusste man, dass Wahlen bedeutungslos sind. Diese Art Ritual muss aus Lukaschenkos Sicht aber erhalten bleiben und dient dazu, seine Macht noch einmal formell zu bestätigen. Schaut man in die belarussische Verfassung, findet man dort auf dem Papier alle demokratischen Institutionen. Dieses Bild einer Scheindemokratie soll aufrechterhalten werden, und dazu gehören regelmäßige Wahlen. Also spielt man das Spiel weiter. Die Wahlen sollen zudem Stabilität vermitteln: Egal was passiert, es gibt dieses Prozedere, eine scheinbare Bestätigung und zusätzliche Legitimierung.
Bei der letzten Wahl 2020 gab es mit Kandidaten wie Swetlana Tichanowskaja starke Herausforderer für Lukaschenko. Heute sind alle Oppositionellen im Gefängnis oder im Exil. Gibt es bei dieser Wahl überhaupt ernst zu nehmende Kandidaten?
Nein, diesmal ist das überhaupt nicht der Fall. Die Wahlkampagne 2025 ist für Lukaschenko eher ein Versuch, die Ereignisse von 2020 auf seine Weise "aufzuarbeiten". Alles wird darauf ausgerichtet, einen neuen Ausbruch von Protesten zu verhindern. Diese Wahlen sind die langweiligsten in der belarussischen Geschichte. Es wird nicht einmal versucht, den Anschein von Pluralismus zu erwecken. Die wenigen Kandidaten, die antreten, sind vollkommen loyal und ambitionslos - genau so, wie es das Regime wünscht.
Sind die Wahlen aktuell ein großes Thema in Belarus? Wird darüber viel gesprochen?
Nein, die Wahlen spielen derzeit in Belarus kaum eine Rolle im öffentlichen Diskurs. Wenn man heute durch die Straßen geht und mit Menschen spricht, merkt man schnell, dass diese Kampagne nahezu unsichtbar ist. Es gibt kaum Veranstaltungen oder Aktivitäten im öffentlichen Raum, die auf die Wahlen hinweisen. Für Lukaschenko scheint es wichtig zu sein, dass alles ruhig und möglichst unauffällig abläuft. Wahlen sind immer eine Mobilisierung der Gesellschaft und das ist auch eine Stresssituation für einen Machthaber wie Lukaschenko. Also ist er sehr bemüht, dass alles möglichst sanft abläuft, ohne irgendwelche Reibungen und Zwischenfälle.
Wissen die Menschen in Belarus überhaupt, wer die Gegenkandidaten sind?
Mein Eindruck ist, dass sich die Menschen dafür nicht wirklich interessieren. Ich glaube, die meisten haben zwar mitbekommen, dass die Wahlen anstehen - es gibt ja Wahlwerbung für Lukaschenko, etwa in Regierungsinstitutionen und staatlichen Organisationen -, aber eine Alternative gibt es nicht, man weiß nicht einmal, wer die Gegenkandidaten sind. Sie treten ja nur als Statisten auf. Einer der vier "Gegenkandidaten", Chef der Kommunistischen Partei, Sergej Syrankow, hat es sehr gut auf den Punkt gebracht. Er sagte: "Ich kandidiere nicht gegen Lukaschenko, ich kandidiere mit Lukaschenko." Theoretisch müssten die Kandidaten ja Lukaschenkos Gegenspieler sein, aber sie sind nur dazu da, als eine Kulisse für sein herausragendes Wahlergebnis zu dienen. Sie bemühen sich nicht einmal - es gibt kaum Auftritte oder Wahlwerbung der anderen Kandidaten.
Es gibt also keine Hoffnung, dass diese Wahl etwas ändert?
Die Menschen in Belarus erkennen in der Wahl keinen Grund zur Hoffnung. Wer mit Lukaschenko zufrieden ist, nimmt die Wahl gelassen hin. Wer ihn ablehnt, sieht ohnehin keine Chancen auf Veränderung. Die Aufbruchsstimmung, die 2020 und bei einigen früheren Wahlen noch spürbar war, fehlt in diesem Jahr völlig. Das Interesse an der Wahl ist entsprechend minimal. Die Menschen betrachten sie nur als Formalität, die bestätigt, was ohnehin klar ist: Lukaschenko bleibt an der Macht.
In den letzten Monaten wurden mehrere Dutzend politische Gefangene begnadigt. Wie interpretieren Sie das?
Diese Begnadigungen betreffen nicht prominente politische Gefangene - keine international bekannten Namen wie Maria Kolesnikowa oder Nobelpreisträger Ales Bjaljazki. Lukaschenko scheint damit vielmehr Signale an den Westen zu senden: "Ich bin bereit zu verhandeln. Wenn ihr wollt, dass prominente Gefangene freikommen, erwarte ich Zugeständnisse von euch." Diese könnten die Lockerung von Sanktionen oder die Anerkennung der Wahlen sein.
Zu den Protagonisten von 2020, wie Maria Kolesnikowa und Wiktor Babariko, bestand seit mehr als anderthalb Jahren kein Kontakt. Kürzlich veröffentlichte die Propaganda Aufnahmen von ihnen.
Lukaschenko demonstriert damit, dass die Anführer der Proteste von 2020 unter seiner Kontrolle sind. Die Bilder der beiden sollen nicht nur den Westen, sondern auch die belarussische Bevölkerung warnen: "Seht her, wer sich mir widersetzt, endet wie sie." Besonders bei Babariko ist sichtbar, wie sehr die Haft ihn physisch gezeichnet hat - eine abschreckende Botschaft für potenzielle Gegner. Gleichzeitig versucht Lukaschenko, den Westen davon zu überzeugen, dass er gesprächsbereit ist. Die Gerüchte über tote politische Gefangene will er entkräften und die Wahlen möglichst "normal" erscheinen lassen. Lukaschenkos Botschaft an den Westen ist: "Wir können eventuell über deren Freilassung reden. Macht mir ein gutes Angebot."
Die meisten Sanktionen gegen Belarus können aber nicht aufgehoben werden, solange der Ukraine-Krieg andauert.
Ja, die meisten Sanktionen wurden nicht wegen Menschenrechtsverletzungen oder Wahlfälschungen verhängt, sondern wegen Lukaschenkos Unterstützung Russlands im Krieg gegen die Ukraine und der Migrationskrise 2021. Solange der Krieg andauert, ist eine Aufhebung dieser Sanktionen kaum denkbar. Zudem kann der Westen Lukaschenko aktuell nicht viel anbieten, da wichtige Entscheidungen - etwa die Stationierung russischer Atomwaffen - ohnehin von Moskau getroffen werden.
Die Wahlen hätten eigentlich im kommenden Sommer stattfinden sollen. Warum wurden sie vorgezogen? Hat das mit Trumps Amtseintritt und möglichen Friedensverhandlungen zu tun?
Lukaschenko hat wohl damit gerechnet, dass Ende 2024, Anfang 2025 eine besonders brisante Zeit bevorsteht. Der Krieg in der Ukraine eskaliert immer weiter und es besteht die Gefahr, dass Putin Belarus stärker in den Krieg hineinziehen will, etwa durch den Einsatz belarussischer Truppen oder Raketenangriffe von belarussischem Territorium. Lukaschenko wollte diese heikle Zeit wohl überbrücken. Und die vorgezogenen Wahlen geben ihm diese Möglichkeit. Jetzt kann er Putin sagen: "Ich habe jetzt ja die Wahlen und kann nicht richtig helfen. Du willst die Situation in Belarus ja nicht destabilisieren."
Zudem könnte Lukaschenko von möglichen Friedensverhandlungen profitieren. Er möchte bei solchen Gesprächen dabei sein - und durch die Wahlen könnte er sich dafür zusätzlich legitimieren. Und schließlich hat Lukaschenko bessere Erfahrungen mit Wahlen in der kalten Jahreszeit gemacht. Im Winter ist die Bereitschaft zu protestieren geringer.
Wie wird das offizielle Ergebnis sein?
Es würde mich nicht überraschen, wenn Lukaschenkos Ergebnis über 90 Prozent liegen wird. Er sieht sich in einem internen Wettbewerb mit Putin, der bei seiner letzten Wahl 87,3 Prozent "erzielt" hat. Es wäre also wichtig für Lukaschenko, diese Zahl zu übertreffen. Gleichzeitig könnten es seine letzten Wahlen sein, sei es aus gesundheitlichen oder anderen Gründen. Deshalb soll das Ergebnis besonders herausragend sein, deutlich über dem, was in der Vergangenheit üblich war. Bei der letzten Wahl 2020 malte man ihm 80,1 Prozent, was von der Bevölkerung als dreist und unglaubwürdig empfunden wurde und zu massiven Protesten führte. Diesmal könnte es eine Trotzreaktion geben: "Damals habt ihr bei 80 Prozent protestiert, jetzt schreibe ich 90 Prozent und ihr werdet alle schweigen."
Und wie viel Prozent würde Lukaschenko bei einer echten, demokratischen Wahl bekommen?
Das ist schwer zu sagen, da in Belarus unter den aktuellen Bedingungen keine verlässlichen soziologischen Studien möglich sind. Es ist jedoch ziemlich sicher, dass Lukaschenko nicht gewinnen würde. Es hätte vielleicht eine Stichwahl gegeben, aber die hätte er verloren. In den letzten Jahren hat er seine Macht weiter konsolidiert, momentan sieht es für ihn viel besser als vor viereinhalb Jahren aus. Aber eine tatsächlich freie, demokratische Wahl kann er nicht gewinnen.
Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou