Nach dem iranischen Raketenangriff auf Israel könnte die Krise im Nahen Osten vollends eskalieren. Über die aktuelle Lage in dem Krisengebiet diskutiert Markus Lanz mit seinen Gästen.
Der iranische Raketenangriff auf Israel am Dienstagabend könnte die Lunte sein, die das Pulverfass zum Explodieren bringt, das der Nahe Osten inzwischen ist. Begonnen hatte alles vor knapp einem Jahr mit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel. Einen Tag später begann die Hisbollah aus dem Libanon, den Norden Israels zu beschießen. Heute lebten dort fast keine Menschen mehr, berichtet ZDF-Korrespondentin Katrin Eigendorf bei Markus Lanz.
Eigendorf hatte einen Tag zuvor die Stadt Kirjat Schmona besucht, vor einem Jahr eine Kleinstadt von knapp 23.000 Einwohnern. Jetzt seien die Straßen wie leergefegt, erzählt sie. Und dennoch wird die Gegend weiterhin von Raketen aus dem Libanon beschossen. Eigendorf berichtet von einer Gruppe junger Soldaten, die sie zufällig getroffen habe. Die Soldaten seien auf dem Weg zu einem Einsatz im Libanon gewesen. Sie hätten Angst, seien aber auch stolz gewesen, ihr Land zu verteidigen, sagt Eigendorf. Man warte nun, einen Tag nach dem iranischen Angriff, auf die israelische Gegenreaktion. Wie sie ausfallen wird, weiß Eigendorf nicht.
Die Situation im Nahen Osten sei unkontrollierbar geworden, sagt Sicherheitsexperte Carlo Masala bei Markus Lanz. Bis Dienstag habe es so ausgesehen, als ob weder der Iran noch die Hisbollah einen großen Krieg führen wollten. Auch Israel wolle keinen umfassenden Krieg gegen den Libanon führen. "Und trotzdem sind alle drei Parteien gerade dabei, genau da hineinzuschlittern", analysiert Masala die Lage in der Krisenregion. Der Iran reagiere defensiv. Er wolle von weiteren Angriffen auf Israel absehen, falls er nicht angegriffen werde. Aber genau das habe Israel angedroht.
Kaum zu überblickende Gemengelage
"Dann haben wir den Iran mit seinen Verbündeten, die er aller Wahrscheinlichkeit nach einsetzen wird", erwartet Masala. Die Folge wäre eine kaum noch zu überblickende Gemengelage. "Dann befindet sich Israel quasi in einem Fünf-Fronten-Krieg", so Masala weiter. Die Politologin Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung fügt hinzu: "Das Interesse aller Seiten ist Sicherheit, und die droht uns jetzt zu entgleiten."
Der Unterschied zwischen dem iranischen Angriff von Dienstag zu jenem im April sei deutlich: Im April hätten die Iraner vorher davor gewarnt, eine solche Warnung habe es am Dienstag nicht gegeben, erklärt Masala. Amerikanische Satellitenaufnahmen hätten auf die Vorbereitungen für den Angriff hingedeutet. Um kurz vor 18 Uhr unserer Zeit seien dann aus dem Iran ballistische Raketen abgefeuert worden, die etwa eine Viertelstunde brauchten, um ihre Ziele zu erreichen: das Hauptquartier des israelischen Geheimdienstes Mossad sowie drei Militärflughäfen. "Man wollte israelische Maschinen am Boden halten oder zerstören. Das ist kein symbolischer Angriff gewesen."
Militärische und politische Balance hat sich verschoben
Die Ursache für den iranischen Angriff sei das Vorgehen Israels gegen die Führung der Terrororganisation Hisbollah gewesen, ist sich Masala sicher. Israel hatte eine große Zahl hoher Hisbollah-Führer durch explodierende Pager und vor einigen Tagen auch Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah getötet. "Der Iran hat da reagiert, indem er gesagt hat, ihr müsst kämpfen und wir unterstützen euch nicht", erklärt Masala das iranische Verhalten. Die militärische Balance in der Region habe sich inzwischen zugunsten Israels verändert.
Das bestätigt Katrin Eigendorf. Doch nicht nur die militärische Lage habe sich verändert, sagt die Korrespondentin, sondern auch die politische. Wegen seines Vorgehens im Gazastreifen und den vielen zivilen Opfern habe Israel zuletzt als eine Art Paria gegolten. Nun habe US-Präsident Biden Israel seine Unterstützung zugesagt. Ministerpräsident Netanyahu habe in der israelischen Bevölkerung zudem viel Vertrauen gutgemacht. Er sei zuletzt für den Tod vieler Geiseln verantwortlich gemacht worden, die sich in den Händen der Hamas befunden haben. Nun werde er als derjenige wahrgenommen, dessen Regierung entschlossen für die Sicherheit der israelischen Bevölkerung eintrete.
Doch wie wird es nun weitergehen im Nahen Osten, wo der Iran offenbar bald in der Lage sein könnte, seinen ersten Atomsprengkopf zu produzieren? Einen Angriff auf das iranische Atomprogramm hält Masala für unwahrscheinlich. Das sei in unterirdischen Tunneln verborgen, die stark gehärtet seien und die nicht leicht zerstört werden könnten. Zudem hätten die Vereinigten Staaten eine Unterstützung einer solchen Maßnahme abgelehnt. Masala befürchtet: "Die Tatsache, dass der iranische Angriff erfolglos war, dass nahezu alles von Israel abgefangen worden ist und die Schäden minimal waren, könnte die Hardliner im Iran dazu verleiten zu sagen, wir müssen diese Waffen schnell produzieren, weil wir sehen, dass unser Raketenpotential Israel nicht gefährlich werden kann."
Die israelische Armee ist siegessicher. Sie weiß um ihre militärische Stärke. Doch die könnte von kurzer Dauer sein, sollte das iranische Atomprogramm erfolgreich sein. Und darauf deutet im Moment vieles hin.