Bereits zwei massive Luftangriffe haben die Ukraine im November erschüttert. Dabei zielte Moskau insbesondere auf die Infrastruktur für die Energieversorgung. Den Ukrainern steht nun der bislang schwerste Kriegswinter bevor.
Bereits am 17. November begann Russland mit seiner dritten Welle der großangelegten Luftangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur - rund einen Monat später als erwartet und trotzdem alles andere als überraschend. Mit 120 Raketen und 80 Drohnen war dies fast der heftigste Beschuss der Ukraine in diesem Krieg überhaupt - abgesehen vom allerersten Tag, dem 24. Februar 2022. Damals verwendete Russland allerdings nur Raketen unterschiedlicher Art. Die ursprünglich aus dem Iran stammenden Shaded-Drohnen, die inzwischen massiv in Russland selbst produziert werden, waren damals noch kein Thema.
Am Donnerstag setzte die russische Armee den zweiten Schachzug bei ihrem Versuch, die Ukrainer im Winter erfrieren zu lassen. Diesmal waren es insgesamt 88 Raketen und 97 Drohnen, von denen zwar viele von der Flugabwehr abgefangen werden konnten. Aber die Geschosse, die durchkamen, haben großen Schaden am ukrainischen Stromnetz angerichtet.
Zwar sind Stromabschaltungen schon seit dem ersten Angriff vom 17. November Alltag für ukrainische Haushaltshalte - und nach dem heutigen Beschuss bleibt die Lage zunächst einmal regional unterschiedlich. Im Durchschnitt müssen die Ukrainer heute aber länger als zwölf Stunden pro Tag ohne Strom auskommen, obwohl sich die Lage in den nächsten Tagen etwas stabilisieren sollte. Besonders betroffen sind westukrainische Gebiete wie Lwiw und Ternopil. Kiew erlebte unterdessen mit 9 Stunden, 26 Minuten den zweitlängsten Luftalarm des gesamten Krieges. Der Rekord dort lag bisher bei fast zehn Stunden, genauer: 9 Stunden und 57 Minuten.
Jeder zweite Ukrainer wittert Verschwörungen hinter Stromausfällen
Der Energieexperte Andrian Prokip, der für die Kiewer Denkfabrik Ukrainisches Zukunftsinstitut arbeitet, sieht grundsätzlich drei Ziele, die der russische Machthaber Wladimir Putin mit der Fortsetzung der Angriffe auf Energieanlagen erreichen möchte. "Zunächst einmal geht es tatsächlich darum, dass die Ukrainer den Winter ohne Strom, Heizung und Leitungswasser verbringen", sagt Prokip ntv.de. Dies sei offensichtlich Teil von Putins allgemeiner Zermürbungsstrategie, die bei weitem nicht nur die direkte Frontlinie betrifft.
Die zweite Absicht steht damit in Zusammenhang und hat mit der ukrainischen Innenpolitik sowie mit der Wahrnehmung der Stromausfälle unter den Betroffenen zu tun. "Spezielle Umfragen, die ich gesehen habe, zeigen zwar, dass knapp über 50 Prozent von den wahren Gründen für Stromausfälle ausgehen, nämlich vom russischen Beschuss", betont er. "Es gibt aber einen großen Raum für Verschwörungstheorien: Menschen, die an heimliche Stromexporte etwa in die EU glauben - oder Leute, die davon ausgehen, dass die Machthaber mit Stromausfällen andere Probleme vertuschen wollen."
Drittens dürfte es Moskau - neben Auswirkungen auf die ukrainische Wirtschaft und die Rüstungsproduktion - um die internationale Ausstrahlungskraft der Bilder der dunklen ukrainischen Städte gehen, um zu zeigen, dass die Ukraine sich angeblich in einer hoffnungslosen Position auf allen Ebenen befindet. "Hier möchte Russland natürlich auch Einfluss auf den kommenden US-Präsidenten Donald Trump nehmen, der während seines Auftritts im September bereits ein völlig unrealistisches Bild von den Zerstörungen in der Ukraine vorgetragen hat", sagt Prokip.
Doch wie erfolgreich ist der Kreml beim Erreichen seiner Ziele und wie kritisch sieht es für die ukrainische Energieinfrastruktur nach den zwei Angriffen aus?
Experte schließt wochenlange Stromkrisen nicht aus
"Wenn wir eines während dieses Krieges gelernt haben, dann dies: Es kann immer und jederzeit noch schlimmer kommen", unterstreicht Andrian Prokip. Hätte es die neue Angriffswelle aber nicht gegeben, wäre es bei vergleichsweise milden Temperaturen sogar möglich gewesen, den Winter fast ohne Stromausfälle zu meistern - obwohl Russland schon zwischen Ende März und Mitte August nicht ganz ohne Erfolg die Kohle- und Gaskraftwerke angegriffen hat. Prokip schließt größere, wochenlange Stromkrisen nicht aus. Sein Standardszenario für den Winter ist aber eher: Es wird Stromausfälle von rund zwölf Stunden pro Tag im Schnitt geben.
"Das kann je nach Folgen eines konkreten Angriffs regional und auch national unterschiedlich aussehen", beschreibt er die Ausgangslage. Die Reparatur nach den Angriffen im Frühjahr und im Sommer seien aber überraschend erfolgreich gelaufen. "Insgesamt profitieren wir weiterhin davon, dass wir zu Beginn der allerersten Beschusswelle gegen die Energieinfrastruktur einen gewissen Stromüberschuss hatten, da sich die Bevölkerung bedeutend verkleinert hatte. So konnten - vereinfacht gesagt - Ersatzteile von einem anderen Kraft- oder Umspannwerk abgebaut werden", erklärt er. Diese Möglichkeit erschöpft sich aber irgendwann - und auch westliche Hilfen haben diesbezüglich ihre Grenzen. Zudem ist die Grundausrüstung von vielen Kraftwerken viele Jahrzehnte alt, was diese für Unfälle auch nach erfolgreicher Reparatur viel anfälliger macht.
Prokip geht wie andere Experten davon aus, dass viel davon abhängen wird, ob Russland massiv die mit Atomkraftwerken verbundenen Umspannwerke angreifen wird, was in kleinerem Umfang schon Ende 2022 geschehen ist. Aus drei auf dem von Kiew kontrollierten Gebiet liegenden Atomkraftwerke kommt weiterhin der Großteil der ukrainischen Stromerzeugung. Sollte eines der Atomkraftwerke komplett abgeschaltet werden, könnte es zumindest für eine längere Zeit kritisch werden. Prokip glaubt zwar nicht an das absolute Worst-Case-Szenario. Aber eines liegt auf der Hand: Den Ukrainern steht der bislang schwerste Kriegswinter bevor.