Das ist ein Meinungsartikel.
Zuerst die Fakten
- Letzten Samstag nahmen französische Behörden Pawel Durow, den Leiter des Messengers Telegram in Paris fest.
- Gegen ihn laufen in Frankreich Vorermittlungen wegen mangelnder Moderation von Telegram-Inhalten: Kriminelle Aktivitäten könnten auf der Plattform ungehindert aufgenommen und fortgesetzt werden. Untersucht wird Medienberichten zufolge zudem, ob er sich durch mangelnde Zusammenarbeit mit den Ordnungskräften des Drogenhandels, Betrugs und Vergehen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch mitschuldig gemacht hat.
- Vorgestern wurde bekannt, dass Emmanuel Macron seit vielen Jahren Telegram nutzt.
- Mittlerweile wurde Durow gegen Kaution aus der Vorermittlung entlassen, muss sich aber in Frankreich zur Verfügung halten.
- Die Verschwörungserzählungen treiben Blüten. Gestern wurde spekuliert, ob Durow ein Doppelagent sei.
- Da alle Medien über diesen Fall berichten, überlasse ich euch die weitere Faktensammlung.
- Hinweis: diese Angelegenheit ist sehr undurchsichtig und ein Nährboden für Spekulationen, Fake News und Verschwörungserzählungen. Bitte beachtet beim Lesen der Nachrichten über dieses Thema eure Medienkompetenz.
Was ist Telegram?
Neben den üblichen Messenger-Funktionen (Eins-zu-Eins, Gruppen mit max. 200'000 Teilnehmern) bietet Telegram Kanäle an, in denen die Kanalbetreiber an eine unbegrenzte Personenzahl Inhalte posten können. Selbstverständlich muss man einem solchen Kanal beitreten; selbst schreiben, kann man dort nicht. Wegen dieser Funktion wird Telegram rechtlich nicht als Messenger, sondern als Social Media Angebot betrachtet. Damit fällt der Dienst unter den Digital Services Act (DSA) der EU. Diese Verordnung soll die Verbreitung illegaler Inhalte verhindert und Nutzer besser schützen.
Der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, Thierry Breton, formuliert den Sinn des DSA so:
„Sachen, die man in echt nicht sagen darf, darf man auch im Netz nicht sagen.“ Niemand habe das Recht, zu beleidigen, Antisemitismus, Kinderpornografie, oder Todesdrohungen zu verbreiten oder Drogen zu verkaufen, alle illegalen Inhalte müssen entfernt werden. Breton forderte deshalb „die gleichen Strafen, ob online oder auf der Straße“.
Aus einer technischen Perspektive kann ich über Telegram Folgendes sagen:
- Telegram ist nicht Ende-zu-Ende verschlüsselt, sondern verwendet lediglich Transportverschlüsselung (TLS) und Ende-zu-Ende Verschlüsselung für Eins-zu-Eins Gespräche, falls man diese explizit einschaltet. Der Algorithmus für diese Verschlüsselung (MTProto) wird von Fachleuten kritisiert.
- Bezüglich der Stabilität und Funktionalität bietet Telegram vermutlich das beste Angebot aller Messenger.
- Die Telegram-Server sind über die ganze Welt verteilt, weshalb sie sich einer technischen Regulation durch nationale Behörden entziehen.
Was sagt Pawel Durow?
Pawel Durow und sein Bruder Nikolai sind "Wunderkinder". Pawel ist der Geschäftsmann, Nikolai ist der Techniker bei Telegram. Nachdem ich Thierry Breton zitiert habe, soll auch Pawel Durow zu Wort kommen. Es gibt nur wenige Interviews mit ihm; hier ist ein einstündiges Interview vom April 2024. Leider führte dieses Interview der Rechtsextreme Tucker Carlson, was den Aussagen von Durow jedoch nicht schadet:
In diesem Interview präsentiert sich Durow als Weltbürger, der über den Gesetzen von Nationalstaaten steht. Das mag arrogant klingen, folgt aber einer Logik. Was in Europa verboten ist, ist in China erlaubt. Was in China verboten ist, ist in Europa erlaubt. Durow hat sich dafür entschieden, die nationalen Gesetze zu ignorieren, um seine eigene Vorstellung von Meinungsfreiheit umzusetzen.
Meine Meinung
Es geht nicht um Telegram, sondern um die technische Umsetzung der Meinungsfreiheit. Telegram ist sehr stabil und funktionsreich, aber in Bezug auf Sicherheit und Privatsphäre bewusst schlecht gemacht. Es gibt keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, dafür aber unbegrenzte Gruppen und Kanäle. Falls einem der Inhalt der eigenen Post bezüglich Sicherheit und Privatsphäre egal ist, hat man mit Telegram eine praktische und weit verbreitete Lösung.
Meistens wird über Telegram als Drogenhölle, Terroristensammelpunkt und Kommunikationsmittel für alle illegalen Geschäfte berichtet. Das ist eine einseitige Sichtweise. Dasselbe könnte man über alle Messenger oder Social-Media-Kanäle sagen. Es gibt Berichte über Briefbomben, geheime Treffen unter Autobahnbrücken, Telefongespräche oder das Benutzen von Strassen, um Pistolen zu transportieren. Dieses Framing negiert die Tatsachen der digitalen, als auch der realen Welt. Das Verbrechen ist Bestandteil der Gesellschaft und hat sich immer Kommunikationskanäle geschaffen.
Ich halte die aktuelle Berichterstattung über den Fall Durow für scheinheilig und zwiespältig, weil der Begriff "Meinungsfreiheit" unterschiedlich ausgelegt wird:
“Die Meinungsfreiheit schützt ein Grundbedürfnis der Menschen”, sagt Maya Hertig, Professorin für Schweizer und europäisches Verfassungsrecht an der Universität Genf. Die Idee der Meinungsfreiheit basiert auf der aufklärerischen Vorstellung, dass wir alle denkende, vernünftige Wesen sind, die ihre Meinung im Dialog bilden.
“Für die Demokratie ist die Meinungsfreiheit und auch die Informationsfreiheit wesentlich”, sagt Hertig. Das Gleiche gelte für die Forschung: “Fortschritt ist nur möglich, wenn die vorherrschende Meinung in Frage gestellt werden kann.”
Deshalb ist die Meinungsfreiheit ein Menschenrecht. Sie ist unter anderem in Artikel 10 der europäischen Menschenrechtskonvention und in Artikel 19 des UNO-Paktes über bürgerliche und politische Rechte verankert.
Laut der Verfassungsrechtlerin Hertig schützt die Meinungsfreiheit sowohl Äusserungen von überprüfbaren Tatsachen als auch von subjektiven Meinungen und Emotionen – zum Beispiel in der Kunst – und symbolische Handlungen – zum Beispiel in Form eines Sitzstreiks. “Geschützt ist der ganze Kommunikationsprozess, vom Verbreiten bis zum Empfangen”, sagt sie. Das heisst: Grundsätzlich darf niemand vom Staat daran gehindert werden, seine Meinung zu äussern.
“Das Recht, eine Meinung zu haben, ist nicht einschränkbar”, erklärt sie. So ist es also nicht strafbar, eine rassistische Einstellung zu haben. Rassistische Äusserungen zu verbreiten, hingegen schon.
Denn: Auch der Meinungsfreiheit sind gesetzliche Schranken gesetzt. “Die Freiheit, eine Meinung zu äussern, ist nicht absolut”, sagt Hertig. Ein absolutes Recht ist eines, das niemals eingeschränkt werden kann – auch nicht in aussergewöhnlichen Lagen wie Krieg, Krise oder Pandemie. “Es gibt nur ganz wenige absolute Rechte, die uneingeschränkt gelten, zum Beispiel das Folterverbot.” Foltern ist nie erlaubt, weder im Krieg noch im Frieden, und auch nicht, wenn die Informationen, die man durch die Folter zu erlangen erhofft, viele Leben schützen könnten.
Die Meinungsfreiheit endet dort, wo andere Schutzgüter wie zum Beispiel die Menschenwürde verletzt werden. Dies gilt bei der Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie dem Holocaust. Doch auch zum Beispiel Verbreitung von Hass gegen einzelne Personen oder Personengruppen ist strafbar.
Das steht im Einklang mit dem Freiheitsbegriff, wie er in der französischen "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" am 26. August 1789 im Artikel 4 formuliert wurde:
Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet.
Hinweis: Das ähnliche Zitat von Immanuel Kant ist falsch.
Was bedeutet das für Messenger wie Telegram oder Social Media oder die Presse oder für uns alle? Alle erwähnten Kommunikationsmittel benötigen eine Aufsicht durch ihre Betreiber. Es wird berichtet, dass Telegram mit einem sehr kleinen Team unterwegs ist (ca. 30 Personen). Diese Aussage kann ich nicht überprüfen. Wenn dem so ist, wird es Telegram nicht schaffen, die Milliarden von Messages auf Verstoss gegen geltendes Rechte in verschiedenen Ländern zu überprüfen. In Russland müsste man dieses melden, in Europa etwas anderes den Behörden melden. Wenn ich mich in die Wunderkind-Position eines Pawel Durows versetzen müsste, kann ich mir gut vorstellen, dass ihm solche Regulative am Allerwertesten vorbeigehen. Das entspricht nicht seinem Denkmodell. Er denkt an die Dissidenten in Russland, im Iran und sonst wo. Ich kann diese Position nachvollziehen.
Deshalb möchte ich euch dieses Gedankenspiel anbieten: Nehmen wir an, es gäbe einen Messenger, der vollverschlüsselt ist und keine Daten an Behörden oder Hacker veröffentlichen kann, weil es technisch nicht möglich ist. Alle Daten und Metadaten sind verschlüsselt, wobei die Schlüssel bei den Nutzer:innen liegen, jedoch nicht beim Provider. Behörden müssten mit Richterbeschluss zu euch kommen, um eure Daten zu erreichen.
Exkurs:
Wir haben dieses Jahr in der EU gegen die Chat-Kontrolle gekämpft und vorerst gewonnen. Eine Erkenntnis aus dieser Diskussion war, dass es keine aufgeweichte Verschlüsselung gibt. Entweder ganz oder gar nicht war das Argument aller Experten. Bei Telegram scheint dieses Argument nicht mehr zu gelten.
Gibt es solche Messenger? Ich meine, es gibt sie nicht. Signal kann es nicht, weil es eine Stiftung unter US-amerikanischem Recht ist, die sich an den Patriot Act halten muss, und deshalb gesetzlich zum Lügen verpflichtet ist. Bei Threema bin ich mir nicht sicher. Sie selbst formulieren es so:
Sowohl Signal als auch Threema sind auf Sicherheit und Datenschutz ausgelegt. Signal geniesst unter Experten einen hervorragenden Ruf und ist zweifellos eine solide Lösung, was Sicherheit betrifft. Im Vergleich mit Threema tritt jedoch bzgl. Datenschutz ein markanter Schönheitsfehler zum Vorschein.
Im Unterschied zu Threema lässt sich Signal nur mit Angabe personenbezogener Daten verwenden, wohingegen Threema völlig anonym, ohne Angabe einer Rufnummer oder E-Mail-Adresse nutzbar ist. Der Umstand, dass Signal als US-amerikanischer IT-Dienstleister dem CLOUD Act unterliegt, verschärft dieses Datenschutz-Defizit noch.
Dann gibt es noch Matrix, das Protokoll, was von vielen in der Community verwendet wird. Threema schreibt dazu:
Auf dem Matrix-Protokoll basierende Messenger wie z.B. Element wurden ausser Acht gelassen, weil aus der Föderation erhebliche Nachteile hinsichtlich Datenschutz erwachsen. Zum Beispiel werden jegliche Chat-Inhalte sowie umfassende Metadaten permanent auf allen involvierten Servern gespeichert, so dass für jeden Server-Betreiber ersichtlich ist, wer wann mit wem kommuniziert und welche Gruppen welche Mitglieder enthalten. Weiter sind persönliche Informationen sowie die gesamte Kontaktliste jedes Nutzers auf dessen Home-Server gespeichert und für den Server-Betreiber prinzipiell einsehbar.
GNU/Linux.ch ist vor Jahren von Telegram auf Matrix umgestiegen. Mittlerweile bin ich mir unsicher, ob das der Weisheit letzter Schluss war. Ich werde mal bei den Matrix-Expertinnen nachfragen, wie es sich mit der Privatsphäre bei Matrix tatsächlich verhält.
Fazit
Kommunikation spiegelt die Menschheit wider, oder eben nicht. Lässt man allem freien Lauf (keine Moderation) bildet sich die Gesellschaft eins zu eins ab; im Guten und im Bösen. Das Recht wurde geschaffen, um den Menschen zu bändigen, und um ein gesellschaftliches Miteinander erst zu ermöglichen. Bei der Skalierung der grossen Messenger und Social-Media-Plattformen, ist die Moderation der Inhalte nicht mehr möglich (kommt mir jetzt nicht mit KI). Eine Möglichkeit wäre, die grossen Lösungen auf kleine herunterzubrechen, um verwaltbare Einheiten zu schaffen, die sowohl die Freiheit, als auch die Gesetze und Freiheiten der anderen garantieren können. Und damit sind wir wieder bei dezentralen Lösungen aus dem Fediverse.
Quellen:
https://www.zeit.de/2024/37/telegram-pawel-durow-kommunikation-ueberwachung-messenger
https://www.derstandard.de/search?query=telegram
https://yewtu.be/watch?v=1Ut6RouSs0w
https://www.politico.eu/article/telegram-pavel-durov-arrest-emmanuel-macron-france-social-media/
https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_%C3%BCber_digitale_Dienste
https://www.humanrights.ch/de/ipf/grundlagen/kuerze/privatsphaere/privatsphaere/
https://falschzitate.blogspot.com/2021/08/die-freiheit-des-einzelnen-endet-dort.html
https://de.wikipedia.org/wiki/USA_Patriot_Act
https://threema.ch/de/messenger-vergleich
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/chatkontrolle-eu-100.html
https://www.golem.de/news/festnahme-in-frankreich-ist-durow-ein-doppelagent-2408-188531.html
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