1 month ago

Damaskus im Visier?: "Völlige Abwesenheit" des Militärs - Islamisten rücken in Syrien vor



In Syrien droht dem Assad-Regime der Kollaps. In nur zehn Tagen rücken islamistische Kämpfer und Kurdenmilizen in Syrien vor. Als Nächstes wird wohl die Millionenstadt Homs fallen. Erneut sind Zehntausende auf der Flucht. Der Iran, Russland und die Türkei vereinbaren ein Krisentreffen in Katar.

Bei ihrem Vormarsch in Syrien kommen die islamistischen Kämpfer offenbar weiter schnell voran. Nach der Einnahme der Großstädte Aleppo und Hama im Nordwesten Syriens seien die Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und ihre Verbündeten nur noch fünf Kilometer von der Stadt Homs entfernt, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. HTS-Anführer Abu Mohammed al-Dschulani bekräftigte das Ziel, Machthaber Baschar al-Assad zu stürzen.

Homs ist nach der Hauptstadt Damaskus und der Wirtschaftsmetropole Aleppo im Norden die drittgrößte Stadt des Landes. "Wer die Schlacht mit Homs gewinnt, wird Syrien regieren", sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel-Rahman. Auf dem Weg in die Großstadt mit gut 1,5 Millionen Einwohnern seien die HTS und ihre Verbündeten in die Städte Rastan und Talbisseh eingedrungen, erklärte die Beobachtungsstelle weiter. Es sei eine "völlige Abwesenheit" von Truppen der Assad-Regierung in diesen beiden Städten festzustellen gewesen. Beide Orte seien zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs Hochburgen der Oppositionskräfte gewesen.

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Nach Angaben der Beobachtungsstelle haben sich die Regierungstruppen auch aus Homs bereits zurückgezogen. Allerdings seien regierungstreue Milizen weiterhin in der drittgrößten Stadt des Landes stationiert. Das syrische Verteidigungsministerium dementierte einen Rückzug der eigenen Truppen. Die Armee erklärte, sie habe Verstärkung nach Homs geschickt.

Kurdenmilizen dringen auf Gespräche - auch mit Ankara

Sollten die Islamisten auch Homs einnehmen, würde dies die Verbindung zwischen Damaskus und der Mittelmeerküste abschneiden. Nach Angaben der Beobachtungsstelle sind Zehntausende aus Homs geflohen, hauptsächlich Angehörige der Minderheit der Alawiten, der auch Assad angehört.

Im Tagesverlauf zog sich die Armee laut Beobachtungsstelle auch aus der gesamten Provinz Deir Essor im Osten Syriens zurück. Die Regierungstruppen und ihre vom Iran unterstützten Verbündeten hätten sich "vollständig aus den von ihnen kontrollierten Gebieten in der Provinz Deir Essor zurückgezogen", erklärte der Leiter der Beobachtungsstelle, Rami Abdel Rahman. Aus Sicherheitskreisen verlautete zudem, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) einen wichtigsten Grenzübergang zum Irak eingenommen und damit effektiv die Kontrolle über die weite Wüste im Osten des Landes übernommen hätten.

Die arabische Miliz Militärrat von Deir Essor, die dem SDF-Bündnis angehört, erklärte: "Um unser Volk zu schützen, werden Kämpfer des Militärrats von Deir Essor in der Stadt Deir Essor und westlich des Euphrat stationiert." Die Stadt, früher Hochburg der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt zwischen Syrien und dem Irak. Im Jahr 2017 wurde sie von der syrischen Armee mit Unterstützung Russlands zurückerobert.

Das Militärbündnis, das bereits einen Großteil Nordostsyriens kontrolliert, bekundete angesichts des Vorrückens der Islamisten zugleich seine Bereitschaft zu Gesprächen. Die Offensive deute auf eine "neue politische und militärische Realität" hin, sagte der SDF-Anführer Maslum Abdi. Die von den USA unterstützen SDF wollten ihre "Probleme" mit der HTS und der ihr nahestehenden Türkei "durch Dialog" lösen.

HTS-Anführer al-Dschulani bekräftigte derweil bei CNN das Ziel seiner Gruppierung, Assad zu stürzen. "Wenn wir über Ziele sprechen, bleibt das Ziel der Revolution der Sturz dieses Regimes. Es ist unser Recht, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um dieses Ziel zu erreichen", sagte al-Dschulani.

Im Süden Syriens brachten lokale bewaffnete Gruppen nach Angaben der Beobachtungsstelle unterdessen den Grenzübergang Nassib an der Grenze zu Jordanien unter ihre Kontrolle. Jordanien hat den Grenzübergang nach eigenen Angaben geschlossen.

Türkei, Iran und Russland treffen sich in Katar

Nach Jahren verhältnismäßigen Stillstands im syrischen Bürgerkrieg hatten vor einer Woche die HTS und mit ihr verbündete Gruppierungen eine Großoffensive im Nordwesten des Landes gestartet. Es sind die intensivsten Kämpfe seit vier Jahren. Der Bürgerkrieg war im Jahr 2011 durch Proteste gegen Assad ausgelöst worden. Rund 14 Millionen Menschen wurden seitdem vertrieben. Nach UN-Schätzungen kamen bisher mehr als 300.000 Zivilisten ums Leben. Eine politische Lösung ist seit Jahren nicht in Sicht. In dem Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung verfolgen Russland, der Iran, die Türkei und die USA eigene Interessen.

Durch die neuen Kämpfe wurden nach Angaben der UNO mindestens 370.000 Menschen in die Flucht getrieben. Wie der Chef der Notfallkoordination des Welternährungsprogramms (WFP), Samer Abdel Jaber, erklärte, könnte diese Zahl auf 1,5 Millionen steigen.

Angesichts des Vormarschs der Islamisten wollen sich am morgigen Samstag die Außenminister der Türkei, des Iran und Russlands in Katar treffen. Der Iran und Russland sind wichtige Verbündete Assads. Die Türkei teilt eine lange Landgrenze mit Syrien und hat fast drei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Ankara unterstützt seit Jahren Aufständische im Norden Syriens, bemühte sich zuletzt jedoch um eine Annäherung an Damaskus.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hofft nach eigenen Worten auf einen problemlosen Vormarsch der Islamisten in Syrien. "Idlib, Hama, Homs und natürlich das Ziel, Damaskus: Der Vormarsch der Oppositionellen geht weiter", erklärte er. "Wir wünschen uns, dass dieser Vormarsch ohne Zwischenfälle fortgesetzt wird."

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Israel schickte unterdessen weitere Soldaten auf die annektierten Golanhöhen. Zusätzliche Luft- und Bodentruppen würden dort entlang der Grenze zu Syrien stationiert, teilte das israelische Militär mit. Israel Armee werde "keine Bedrohungen in der Nähe der israelischen Grenze tolerieren", hieß es in einer Mitteilung weiter. Israel stellt sich Medien zufolge auch auf einen möglichen Kollaps der syrischen Armee ein. Die israelische Zeitung "Haaretz" meldete, Israel bereite sich auch auf die Möglichkeit eines Überraschungsangriffs aus der syrischen Grenzregion heraus vor.

"Die Bundesregierung verfolgt die sich rasch verändernde Lage in Syrien genau", sagte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums der Deutschen Presse-Agentur. Ob sich aus dieser Lage Fluchtbewegungen in der Region oder aus der Region hinaus ergäben, sei zurzeit ebenso wenig vorhersehbar wie mögliche Auswirkungen auf die Möglichkeiten von syrischen Flüchtlingen zur Rückkehr in ihre Heimat.

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