Donald Trump kann Kiew zu Verhandlungen zwingen, nicht aber Moskau, sagt Wolodymyr Fessenko - einer der renommiertesten Politikexperten der Ukraine im Gespräch mit ntv.de. Gerade deshalb könnte Trump sich gezwungen sehen, für einen erfolgreichen Deal den Druck auf Putin zu erhöhen. Seit mehr als 20 Jahren ist der Politikwissenschaftler Fessenko Chef des Zentrums für angewandte politische Forschung Penta in Kiew. Auch zu den Auswirkungen der deutschen Regierungskrise hat der 66-Jährige eine klare Meinung.
ntv.de: Herr Fessenko, für kein anderes Land außerhalb der USA dürfte das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl so folgenreich sein wie für die Ukraine. Wie haben die Ukrainer den 5. November verfolgt und wie reagierten Sie auf das Ergebnis?
Wolodymyr Fessenko: Der Wahlsieg Donald Trumps hat für ganz unterschiedliche Reaktionen gesorgt. Einige sind geschockt, verzweifelt und gar in Panik. Die Befürchtung, dass Trump die Ukraine entweder Wladimir Putin überlassen oder uns einen unfairen Frieden aufzwingen könnte, ist unter den Ukrainern weit verbreitet. Es gibt aber auch entgegengesetzte Reaktionen: eine gelassene oder gar optimistische Einstellung gegenüber Trump. Diese Menschen hoffen, dass Trump tatsächlich den Krieg schneller beenden und entschiedener als Biden vorgehen könnte. Interessant ist aber auch, dass viele Bürger das Wahlergebnis schulterzuckend hingenommen haben. Das hat einen klaren Grund: Der Krieg hat viele von uns zu Fatalisten gemacht. Was auch immer in den USA passiert, wir müssen unseren Beitrag leisten und versuchen zu überleben - ob an der Front oder im Hinterland.
Was denken Sie? Bedeutet Trump eher ein Risiko oder eine Chance für die Ukraine?
Er ist beides. Natürlich wäre Kamala Harris die sicherere Option gewesen, keine Frage. Man muss aber auch ehrlich sagen, dass die Fortsetzung der bisherigen vorsichtigen US-Strategie auch nicht optimal gewesen wäre für Kiew. Donald Trump wird eine neue Dynamik hineinbringen und einige Prozesse beschleunigen.
Ist das gut?
Von der angekündigten Beendigung des Krieges innerhalb von 24 Stunden kann natürlich keine Rede sein. Wir hätten schon großes Glück, wenn es in 24 Wochen klappt. Aber es können durchaus auch 24 Monate sein. Ja, Trump ist ein Befürworter eines schnellen Kriegsendes. Daher ist es naheliegend, dass er Verhandlungen aufnehmen wird. Wir können grob davon ausgehen, dass er sich die Einstellung der Kampfhandlungen entlang der aktuellen Frontlinie vorstellt sowie die Schaffung von entmilitarisierten Zonen entlang dieser Frontlinie und möglicherweise der russisch-ukrainischen Grenze. Damit Putin dem zustimmen kann, würde Trump zudem ankündigen, dass die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wird. Die ukrainische Seite wird diese Vorschläge nicht sonderlich mögen. Aber es ist auch unwahrscheinlich, dass sie kategorisch abgelehnt werden, denn sonst könnte Trump die Militärhilfe für die Ukraine einstellen. Kiew muss daher den Verhandlungen zustimmen und unsere Interessen in deren Verlauf verteidigen.
Moskau wähnt sich im laufenden Abnutzungskrieg klar auf der Gewinnerseite. Warum sollte der Kreml auf solche Vorstellungen von Trump eingehen?
Das größte Problem für Trump ist tatsächlich Russland. Es ist längst offensichtlich, dass der Kreml bei potenziellen Verhandlungen eine sehr harte, aggressive Position einnehmen und den Frieden durch große einseitige Zugeständnisse seitens der Ukraine fordern wird. Zu russischen Bedingungen. Die Ukraine wird das nicht akzeptieren können. Doch es wäre auch für Trump kaum akzeptabel, denn das würde klar wie eine Niederlage der USA aussehen. Daher könnten die Gespräche nach einiger Zeit in eine Sackgasse geraten. Dann stünde Trump vor der Frage: Wie soll er denn auf eine solch harte Position Russlands reagieren? Ein Szenario wäre, dass Trump dann versucht, den Druck auf Moskau zu erhöhen - mit der Vergrößerung der Militärhilfe an die Ukraine oder mit dem Versuch, Gas- und Ölpreise auf dem Weltmarkt zu senken. Parallel würde Washington neue Verhandlungsversuche mit dem Kreml unternehmen, um Moskau doch zu Kompromissen zu bewegen.
Heißt das, die Streichung der US-Militärhilfe an die Ukraine kommt vorerst nicht infrage?
Sehr wahrscheinlich ist, dass Trump reine Finanzhilfen, die in den zivilen Haushalt der Ukraine fließen, entweder gänzlich einstellen oder kürzen könnte. Das ist nicht gut für die Ukraine, diese wurden aber bereits für 2024 gekürzt und der Anteil der EU in diesem Bereich ist ohnehin größer. Militärhilfen würden jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest vorerst aufrechterhalten. Allerdings wird sich das Format dieser Militärhilfen sicherlich verändern. Sie würden auf Kredit gewährt - in der Form von Lend-Lease. Generell ist es gut möglich, dass im nächsten Halbjahr zwei Prozesse parallel laufen werden: Einerseits wird der Krieg fortgesetzt, andererseits wird es Verhandlungen geben - mit sehr unklaren Aussichten. Diesbezüglich muss man sich gleich von einer wichtigen Illusion verabschieden: Es ist nahezu ausgeschlossen, dass es während der Verhandlungen eine Art Feuerpause oder Ähnliches geben wird. Es war schon immer Putins Taktik, während der Gespräche den maximal möglichen militärischen Druck auszuüben. So war es auch während des Minsker Prozesses im Donbass-Krieg im August 2014 und im Februar 2015.
Was sagen uns die bisherigen Personalentscheidungen Donald Trumps? Marco Rubio als zukünftiger Außenminister und Michael Waltz als möglicher Sicherheitsberater sind zwar keine besonderen Ukraine-Sympathisanten. Aus ukrainischer Sicht hätte es aber auch noch schwierigere Kandidaten gegeben.
Ich würde aus diesen Personalentscheidungen keine voreiligen Schlüsse ziehen mit Blick auf die Konsequenzen. Sie geben einerseits die Weltsicht Trumps wieder, andererseits sind sie auch ein Ausdruck der komplizierten, umstrittenen Situation innerhalb der Republikanischen Partei. Gleichzeitig sind sie Folge des Wahlkampfes. Trump dankt damit nicht zuletzt bestimmten Personen für ihre Unterstützung. Außerdem liegt es auf der Hand, dass in dieser Regierung Posten auf Basis der persönlichen Loyalität zu Trump vergeben werden. Mit Sicherheit kann man sagen, dass die jeweiligen Sichtweisen auf die Ukraine kein ausschlaggebendes Kriterium für diese Ernennungen waren. In jedem Fall wird Trump selbst das entscheidende und letzte Wort haben. Was konkret Rubio und Waltz betrifft: Sie gelten als "Falken", als Befürworter der gewaltsamen Abschreckung von US-Gegnern. Sie sind definitiv nicht pro-russisch, wenn zugleich auch nicht pro-ukrainisch. Das sind eindeutig nicht die problematischsten Ernennungen in der neuen Trump-Regierung.
Sind Sie besorgt darüber, dass während die USA auf die Vereidigung von Donald Trump warten, auch Deutschland in einer politischen Krise steckt?
Positiv ist, dass alle Akteure sich doch recht schnell auf einen Wahltermin geeinigt haben. Die Haushaltskrise an sich bedeutet natürlich nichts Gutes für die Ukraine. Und egal, wie die Bundestagswahl ausgeht, ist damit zu rechnen, dass direkte Hilfen aus Deutschland eher kleiner werden als größer. Wegen des für vier Jahre verabschiedeten EU-Programms Ukraine Facility und der Einigung, die eingefrorenen russischen Aktiva zu nutzen, ist das aber kein Riesenproblem. Ansonsten sehe ich die Perspektiven der Bundestagswahl aus ukrainischer Sicht nicht besonders kritisch. Klar sind die Ergebnisse der AfD und des BSW besorgniserregend. Vieles sieht jedoch danach aus, als ob CDU und CSU die Wahlen gewinnen würden, was das politische Kiew eher positiv sehen dürfte. Alle realistischen Koalitionsmöglichkeiten sind aus ukrainischer Perspektive ebenfalls akzeptabel.
Die russische Vollinvasion dauert bald 1000 Tage an. Die Lage an der Front ist gerade in der Region Donezk äußerst schwierig. Es droht ein schwerer Winter mit langen Stromausfällen. Themen wie die Mobilisierung weiterer Zivilisten belasten die Gesellschaft zusätzlich. Wie bewerten sie aktuell die Stimmung in der Ukraine?
Natürlich ist das eine komplizierte Phase. Der ukrainische Widerstand hält und die Lage ist alles andere als katastrophal. Aber nach fast 1000 Tagen ist man selbstverständlich müde. Eine gewisse Ambivalenz in der Gesellschaft ist daher eigentlich absolut natürlich. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Mobilisierung: Es ist klar, dass sie notwendig und überlebenswichtig ist. Doch selber an die Front gehen zu müssen, ist natürlich nicht die schönste Perspektive, die man haben könnte. Generell würde ich aber sagen, dass sich die Gesellschaft derzeit in drei Gruppen etwa gleicher Größe aufteilt: Rund ein Drittel der Bevölkerung würde jegliche Verhandlungen mit Russland klar ablehnen - selbst im Falle, dass die Ukraine ihre international anerkannten Grenzen erreicht und man dann Kriegsergebnisse auf dem Papier finalisieren müsste. Ebenfalls für ein Drittel der Bevölkerung ist die höchste Priorität, dass der Krieg schlicht aufhört. Und ein weiteres Drittel befindet sich irgendwo in der Mitte: Diese Menschen könnten sich etwa einen Waffenstillstand vorstellen, doch es kommt dabei unbedingt auf konkrete Bedingungen und Umstände an.
Welche Konditionen wären denkbar?
Weil es extrem schwierig bis unmöglich sein wird, während der aktuellen Kampfhandlungen die Grenzen von 1991 militärisch zu erreichen, gibt es insgesamt eine Tendenz zu einem bloßen Waffenstillstand entlang der Frontlinie. Hier sind aber drei Dinge wichtig. Die Ukrainer werden sich nicht darauf einlassen, okkupierte Gebiete als russisch anzuerkennen. Das wichtigste Thema für sie sind wirksame Sicherheitsgarantien. Davon hängt die potenzielle Zustimmung direkt ab. Und: Es bleibt weiterhin unklar, wozu Wladimir Putin diesen Waffenstillstand Stand jetzt überhaupt bräuchte.
Mit Wolodymyr Fessenko sprach Denis Trubetskoy