Am 2. September endet die Frist zur Abgabe der Steuererklärung. Unser Autor hat sich mal wieder überwunden. Eine Glosse über Papierstapel, Bürokratismus und den Schweinehund.
"Irre, aber irgendwie fast schon vintage", findet Sabine, dass ich meine Steuerklärung so mache wie seit 38 Jahren: per Hand. Mit einem Kugelschreiber. Ohne jede Steuer-Software, ohne irgendeine Beratung. Auf Papier. Und sie muss es wissen. Nach unserem Abitur wurde sie Finanzbeamtin. Und schon etwas länger mache ich das jedes Jahr von Neuem – fast schon vintage eben.
Meine persönliche Beziehung zu Steuererklärungen verdanke ich meiner Mutter. 1986 war ich für einen Monat angestellter Hilfsarbeiter in einer Werkzeugmaschinenbau-Fabrik. Ich arbeitete im Lager für Bauteile und an deren Ausgabe am Ende der Produktionshalle. Das vierwöchige Hantieren mit bis zu 50 Kilogramm schweren Flanschen verschaffte mir damals eine runderneuerte Vorstellung von Arbeit und Beruf. Vermutlich genügte dafür schon die Zeit bis zur ersten Frühstückspause. Den Rest des Jahres war ich Gymnasiast. Und als solcher war ich durch die Arbeit geradezu Krösus geworden: Satte 952 D-Mark bekam ich. Dass mir davon 93 D-Mark Lohnsteuer und 8,10 D-Mark Kirchensteuer abgezogen worden waren, hätte ich wohl tonlos hingenommen. Meine Mutter, ganz Kauffrau, aber nicht. Beim Finanzamt sollte ich mir ein Formular für etwas abholen, das man seinerzeit Lohnsteuerjahresausgleich nannte. Und dort – gefälligst selbst ausgefüllt – wieder abgeben. Autsch.
Elster lenkt mich von der eigentlichen Aufgabe ab: dem Niederringen des inneren Schweinhunds
2022 versuchte das hessische Finanzministerium einmal mich umzustimmen und zur persönlichen Digitalisierung zu bewegen. Auch da ging es wieder um meine Mutter. Wie alle Grundeigentümer in Deutschland wurden meine Eltern verpflichtet, für ihr Haus eine "Erklärung zum Grundsteuermessbetrag" abzugeben. "Wenn Sie glaubhaft darlegen können, dass eine elektronische Abgabe nicht zumutbar ist, dürfen Sie die Erklärung (…) in Papierform abgeben. Dies können Sie schriftlich oder telefonisch beim Bürgerservice Ihres zuständigen Finanzamtes beantragen", hieß es in dem Schreiben. Schönen Dank.
Nie und nimmer hätten meine Eltern einen solchen Antrag stellen können, geschweige denn jene Erklärung abgeben. Und da ich kein ernsthaftes Interesse am näheren Kennenlernen des Bürgerservice eines von mir 500 Kilometer entfernten Finanzamtes verspürte, blieb nur ein Weg: Die Anmeldung für jenen Elektro-Internet-Weg namens Elster freischalten. Ergebnis: Elster raubt mir zusätzliche Zeit, ist für mich unübersichtlicher als Papier, lenkt mich von der eigentlichen Aufgabe ab: dem Niederringen meines inneren Schweinhundes. Warum also noch mehr schlafende Schweinehunde wecken? Die ganzen belegten und teils mühsam zusammengeklaubten Zahlen zusätzlich in Elster eingeben? Einfach lochen, heften, und ab dafür. Ganz ohne "Error 401"-Risiken.
Ein Augenstern des deutschen Bürokratismus: Steuererklärungsformulare
Und so lasse ich auch in diesem Jahr den Blick über jenes Regal im Finanzamt schweifen, in dem all diese grünlichen Formulare ausliegen. Ein Augenstern des deutschen Bürokratismus. Sprachlich, gestalterisch, inhaltlich. Mitmenschlich gedacht, kann man eigentlich nur dazu raten, nichts davon anzufassen. Lieber zum Lohnsteuer-Hilfeverein. Oder ins Steuerberater-Büro. Oder doch irgendeine Steuer-Software? Kann man alles machen.
Ich habe aber immer noch den Ehrgeiz, ein bisschen zu verstehen, wie das mit meinem Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens in Deutschland funktioniert – und die Politik lässt sich auch jedes Jahr was Neues einfallen, das ich dann entdecken kann. Diese giftgrünlichen Blätter sehen immer mindestens an einer kleinen Stelle anders aus. Zeile 48 ist dann plötzlich 49. Zum Beispiel. Es nützt daher nur begrenzt, mit der Idee von Zeitersparnis fürs nächste Jahr eine Kopie des ausgefüllten Machwerkes anzufertigen. Falsche Zeile, falsche Zahl – zu gefährlich.
Mit Blues auf den Ohren schreite ich zur Tat
Manchmal führen aber auch Änderungen der Welt zu neuen Komplikationen. Für das Steuerjahr 2023 scheint die Anlage KAP besonders gefragt zu sein. Jedenfalls im Norden Hamburgs. Sie ist nämlich vergriffen, als ich beim Finanzamt die Formulare abhole. Möglicherweise geht es vielen wie mir: Die im vergangenen Jahr sprunghaft gestiegenen Zinsen haben meine Gutschriften über die Freigrenze von 1000 Euro pro Kopf bugsiert. Meine Bank hat daher automatisch Kapitalertragssteuern an den Fiskus abführt. Misslich, aber lösbar: Kurz durchatmen, Blues-Musik zum Trost, und los geht’s. Ich drucke die KAP aus dem Netz aus, und fülle sie aus. Meine Bank hat glücklicherweise eine Anleitung mit allen nötigen Zahlen geschickt.
Steuerfahnder u. -berater 15.15
Flott von der Hand geht auch die Anlage AV, einst geschaffen für die "Riester-Rente". Nachdem ich irgendwann mal begriffen hatte, dass ich die Zahl für Zeile 6 namens "beitragspflichtige Einnahmen i.S.d. inländischen gesetzlichen Rentenversicherung" in der bis dahin eher sinnlos erscheinenden jährlichen "Meldung zur Sozialversicherung" nach "§25 DEÜV" unter "Entgelt in Euro" finde, die mir mein Arbeitgeber zuschickt … grandios. Seit 2007 mache ich das nun. Jährliche Netto-Rendite im Schnitt: fünf Prozent. Vor Steuern. Für eine Mixtur aus Aktien und Zinspapieren mit Auszahlgarantie sämtlicher Einzahlungen ist das ziemlich ordentlich.
Königsklasse ist Anlage N. Die Zettelschlacht. Das Leben des Vorjahres zieht noch einmal an einem vorüber: Dazu Fachbücher gekauft, dort Fortbildung absolviert, mit einem Kollegen Seminarvorbereitung gemacht, und dabei Pasta verzehrt. Vom Rechnungsbetrag der Bewirtung 70 Prozent berechnen. Gemäß §§ 4 und 9 Einkommensteuergesetz. Das Honorar der Uni Münster eintragen, wo ich – nebentätig – Gastdozent sein durfte. Die Beiträge zur Gewerkschaft nicht vergessen. Und so weiter und so fort.
Im vergangenen Jahr wurden rund 26 Prozent aller Steuererklärungen auf Papier abgegeben. Gar nicht so wenig, finde ich. 1987 bekam ich auf diesem Weg 101,10 D-Mark zurück. Also alles. Sagenhaft.