3 months ago

Bootsflüchtlinge abgewiesen: Italiens Minister Matteo Salvini drohen 15 Jahre Haft



Ein Prozess gegen Italiens Rechtspolitiker Salvini hält das Land in Atem. Weil er vor fünf Jahren als Innenminister einem Boot mit Migranten die Einfahrt in einen italienischen Hafen verweigerte, steht er vor Gericht. Der heutige Transportminister der Regierung Meloni könnte für Jahre im Gefängnis verschwinden.

In Italien droht dem Parteichef der rechtspopulistischen Lega und amtierenden Transportminister, Matteo Salvini, eine lange Haftstrafe. Er steht in Palermo vor Gericht - noch vor Ende des Jahres könnte er zu einer Haftstrafe von 6 oder auch 15 Jahren Gefängnis verurteilt werden. Drei Stunden verlas die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift gegen den einstigen Innenminister - und erschütterte das Land. Dabei schien der Fall, um den es geht, schon vergessen. Eigentlich passt er auch gar nicht in diese Zeit, in der viele EU-Länder über Zurückweisungen, Abschaffung des Asylrechts und Migranten diskutieren, die sich als Terroristen entpuppen.

Der Prozess gegen den heutigen Koalitionspartner von Premierministerin Giorgia Meloni nahm seinen Anfang im August 2019. Damals war Salvini Innenminister in der Regierung von Giuseppe Conte und in einer Koalition mit der Protestpartei des Komikers Beppe Grillo, der "Fünf-Sterne-Bewegung" (M5S). Beide Parteien waren sich damals einig, die Migration nach Italien zu stoppen, auch mit drastischen Maßnahmen.

Die Flüchtlinge kamen, damals wie heute, mit Booten aus Nordafrika. Meist war die südlichste Insel Italiens, Lampedusa, das Ziel. Gerieten die Boote in Seenot, kamen Marine, Küstenwache oder auch Handelsschiffe zu Hilfe. Aber nicht immer rechtzeitig. In den vergangenen zehn Jahren könnten 26.000 Migranten im Mittelmeer ertrunken sein, schätzt die UN-Migrationsagentur IOM.

Am 1. August 2019 bat der Kapitän des Rettungsschiffs Open Arms von der gleichnamigen spanischen Hilfsorganisation um einen "sicheren Hafen". Man habe 124 Personen, unter ihnen 32 Minderjährige, aus akuter Seenot gerettet. Salvini verweigerte dem Schiff die Erlaubnis, in den Hafen von Lampedusa einzulaufen. Es begann ein juristisches Tauziehen. Erst 19 Tage später, nach einem Gerichtsbeschluss, durfte die Open Arms doch noch anlegen.

"Nicht Gerichte regieren, sondern vom Volk gewählte Regierung"

Salvini führte damals dieselben Gründe an wie heute vor Gericht in Palermo. Erstens, die Entscheidung, keine Migranten auf dem Weg übers Mittelmeer mehr zu wollen, sei eine politische Entscheidung der Regierung gewesen. Diese sei vom Volke gewählt, das Volks sei souverän, und die Gerichte hätten dem Volke, mithin ihm als dem Vollstrecker des Volkswillens, nicht in den Arm zu fallen. "Nicht die Gerichte regieren, sondern die vom Volk gewählte Regierung."

Dieser Salvini-Spruch läuft nun wieder als Dauerbrenner durch alle politischen Sendungen des von der Regierung kontrollierten Staatsfernsehens RAI. Er habe die Personen an Bord der Open Arms nicht an Land gehen lassen wollen, so Salvini damals, weil unter ihnen "Terroristen" gewesen seien. Die dritte Rechtfertigung ist bis heute das Hauptargument auch der Meloni-Regierung: "Die Verteidigung der nationalen Grenzen, ein nationaler Notstand, eine Invasion musste abgewehrt werden."

Der Organisation Open Arms gelang es damals, am 19. August, einen Eilbeschluss gegen die Blockade des Schiffes auf offener See zu erwirken. Nach Überprüfung der Menschen an Bord stellte Salvinis Innenministerium lapidar fest: Weder waren Terroristen darunter, noch sonst irgendwelche polizeilich gesuchten Personen. Das Gericht in Palermo stellte fest: Italien hat die Pflicht, alle Menschen ungeachtet ihres persönlichen Status der Herkunft erst einmal zu retten und in einen sicheren Hafen zu bringen. Daran hatte sich Italien durch die Unterzeichnung der Seenotrettungs-Konvention gebunden.

So hatte wenige Tage zuvor auch schon das Gericht von Agrigent entschieden. Damals, im Juli 2019, ging es um den Fall der deutschen Kapitänin Carola Rackete. Eine Zurückweisung auf offener See sei ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechtskonventionen, stellten alle mit der Sache befassten italienischen Gerichte damals fest.

Fakt ist: Die Zahl der Mittelmeer-Migranten nahm im Folgejahr des Open-Arms-Falles, also 2020, nicht ab- sondern sogar noch zu, ungeachtet der harten Linie. Erst die Migrationsabkommen mit den nordafrikanischen Anrainerländern reduzierte diese Anzahl in den Folgejahren deutlich.

"Dann wäre Italien auf einer Ebene mit Russland oder Afghanistan"

Die Statistiken offenbaren noch etwas anderes. Von den in Italien angelandeten Migranten beantragte seit 2011 überhaupt nur ein Drittel auch dort Asyl. Sie landeten zwar in Italien, wenige Wochen später aber erst stellten die in Italien Gelandeten ihren Asyl-Erstantrag nördlich der Alpen - zum Beispiel in Deutschland. Laut dem Dublin-Abkommen hätten sie dies eigentlich im ersten Ankunftsland, sprich: Italien, tun müssen. Italien winkte also einfach durch und ging so dem Problem der Abschiebungen aus dem Weg.

Die Staatsanwaltschaft von Palermo sieht nun im Verhalten von Salvini und weiteren Funktionären, eventuell auch von noch anderen Mitgliedern der damaligen Regierung, eine Reihe schwerwiegender Gesetzesverstöße. Grob rechtswidrig habe Salvini die 143 Migranten und Besatzungsmitglieder an Bord festgehalten. Damit sei der Straftatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt. Er habe dies als staatlicher Funktionsträger getan, in offener Missachtung der italienischen Gesetze, der internationalen Konventionen, die keinen Interpretationsspielraum ließen. Gerade Regierungsmitglieder hätten sich an das geltende Recht zu halten. Die Mindeststrafe dafür seien sechs Jahre Haft. Das italienische, europäische und internationale Recht sei massiv gebeugt worden.

"Wenn Italien auf offener See oder an den Landgrenzen Menschen zurückweisen möchte, dann sollte Italien besser aus UNO, EU und allen Konventionen zum Schutz der Menschenrechte austreten. Dann stünde das Land auf der Ebene von Regimen wie Russland, China oder Afghanistan. Dann könnte Rom machen, was es will", sagte die Juristin und Autorin Vitalba Azzolini ntv.de dazu.

Am 18. Oktober hält Salvinis Star-Anwältin, Giulia Bongiorno das Plädoyer der Verteidigung. Mit einem Urteil in Palermo wird bis spätestens Ende des Jahres gerechnet. Bongiorno war 2019 zusammen mit ihm Ministerin der Regierung Conte, heute ist sie Mitglied des italienischen Senats.

Für Salvini muss der Prozess in Palermo aber politisch kein Unglück sein. Als erste Reaktion hat er zu Unterschriftensammlungen in ganz Italien aufgerufen, gegen eine "politisierte" Richterschaft. Salvini fährt eine Kampagne gegen eine "linksversiffte" Richterschaft, die ihn, den Macher und Beschützer der Grenzen, nicht machen lässt. Ob das seinen seit geraumer Zeit sinkenden Stern politischer Beliebtheit wieder nach oben pusht? Salvini mag darauf hoffen. Silvio Berlusconi hatte aus seinen Kampagnen gegen eine "politisierte Richterschaft" jahrelang politischen Nutzen gezogen.

Einen prominenten Fürsprecher hat Salvini übrigens sofort gefunden. Elon Musk meinte sogleich, der "irre Staatsanwalt" gehöre selbst ins Gefängnis, nicht Salvini.

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