1 month ago

Blue Wave rollt durch Washington: Zehntausende tragen Harris in die finale Wahlwoche



Am kommenden Dienstag wird in den USA gewählt - und an historischer Stelle grenzt sich Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris entschieden von Kontrahent Donald Trump ab. Zehntausenden verspricht sie vor dem Weißen Haus: "Wir gehen nicht zurück."

Dienstag um 9.35 Uhr klingelt das Handy, eine unbekannte Nummer steht auf dem Bildschirm. "Planst du weiterhin, heute zur Harris-Rally in D.C. zu gehen?", fragt die Anruferin. Ja, allerdings. "Und hast du schon gewählt?" Nein, ich bin nicht wahlberechtigt. "Ok, danke!" Die Verbindung bricht ab. Zehn Stunden später, zwischen Weißem Haus und Obelisken, schwillt die Lautstärke der Menge zu einem ohrenbetäubenden Sturm an.

 Washington D.C. am Dienstagabend bei Kamala Harris' letzter großer Rally vor dem Wahltag.  Washington D.C. am Dienstagabend bei Kamala Harris' letzter großer Rally vor dem Wahltag.

Ein Meer aus Köpfen, im Hintergrund das Weiße Haus: Washington D.C. am Dienstagabend bei Kamala Harris' letzter großer Rally vor dem Wahltag.

(Foto: REUTERS)

"Guten Abend, Amerika!", ruft Kamala Harris den mindestens 50.000 Menschen zu. Sie sind gekommen, um zu hören, was die Kandidatin der Demokraten von Donald Trump unterscheidet. Was der Republikaner bei seinen Wahlkampfveranstaltungen in eineinhalb bis zwei Stunden versucht, macht Harris in einer halben Stunde. Manchmal packt sie es auch in einen Satz. "Trump würde am ersten Tag mit einer Feindesliste ins Oval Office gehen", sagt sie und zeigt auf das Weiße Haus hinter sich. "Ich mit einer To-do-Liste." Zehntausende jubeln.

In einer Woche wählen die Vereinigten Staaten, und die Präsidentschaftskandidatin steht genau dort, wo Trump im Januar 2021 seine Anhänger aufwiegelte, weil er seine Niederlage nicht akzeptieren wollte. Die beiden liegen in Umfragen gleichauf, es kann gefühlt alles passieren: blaue Welle oder rote Flut. Harris wirbt ein letztes Mal auf großer Bühne dafür, auf Joe Biden folgen zu dürfen. Trump hatte das Gleiche bereits am Sonntag in New York City getan.

"Genug von Spaltung und Chaos"

Eingepfercht in den Straßenschluchten Manhattans standen die Menschen, um einen Platz im Madison Square Garden zu bekommen. Tausende kamen nicht hinein. In Washington stehen die Menschen an diesem Dienstag schon viele Stunden in Zickzacklinien kilometerlang an; andere haben Picknickdecken auf der weitläufigen Wiese rund um den Obelisken ausgebreitet, mit Blick aufs Gelände. Als es dämmert, sammeln sich die Menschen vor dem Zaun und einem riesigen Bildschirm; die Bühne ist zu sehen, die roten und blauen LED-Lichter, die die Besucher bekommen haben, blinken.

Bei Trump gaben sich rund vier Stunden lang die Redner das Mikrofon in die Hand; Politiker, Prominente, Elon Musk und Melania Trump. Sie hämmerten den Zuschauern ihre Formeln ein, manche latent rassistisch, manche offen. Ein Redner bezeichnete Harris als "Antichrist" und "Teufel". Bei der Demokratin erzählen nun etwa eine halbe Stunde lang eine Handvoll Wähler von ihren Sorgen und Hoffnungen. Eine Mutter erinnert an die Geschichte der Frauen. "Heute leiten sie Unternehmen, sie regieren Städte ...", die Menschen können sich denken, was kommt und jubeln, "... und bald wird eine dieses Land regieren." Die Menge antwortet mit begeisterten "U-S-A"-Rufen.

Krankenversicherungen, Abtreibungen, Lebensmittelpreise und Entlastung für die Mittelschicht statt für Reiche sind die Themen. Die letzten Redner sind Landwirte aus dem so wichtigen battleground state Pennsylvania: "Lebenslange Republikaner", sagen sie und werden ausgebuht. "Aber genug von Spaltung und Chaos!" Sie würden erstmals beide Demokraten wählen und wiederholen das Mantra ihrer Vorredner: "Es ist Zeit, die Seite umzuschlagen." Die beiden werden tosend bejubelt für ihre Entscheidung. "This Land is Your Land", tönt es aus den Lautsprechern, als das Paar von der Bühne geht.

"Ich werde mit Stolz unterschreiben"

Dann kommt Harris. Ihre Rede klingt halb nach Wahlkampf und halb nach einer Ansprache an die Nation. Vor vier Jahren sei die Priorität gewesen, die Pandemie zu beenden und die Wirtschaft zu retten. "Jetzt besteht unsere größte Herausforderung darin, die Kosten zu senken, die schon vor der Pandemie gestiegen sind und die immer noch zu hoch sind." Mit der Inflation und den hohen Lebenshaltungskosten treiben die Republikaner die regierenden Demokraten im Wahlkampf schon seit Monaten vor sich her.

"Wir gehen nicht zurück", verkündet die Demokratin nun, während sie hinter ihrem Vizepräsidentinnen-Wappen auf dem Rednerpult steht, das angestrahlte Weißen Haus in ihrem Rücken. Drei junge, schwarze Frauen hüpfen begeistert: "Wir gehen nicht zurück, gehen nicht zurück!" Harris geht ihre Liste Punkt für Punkt durch. Darunter sind Steuersenkungen für Arbeiter und die Mittelschicht; auf Trumps seine Spender-Milliardäre, die er begünstigen wolle, sagt sie. Eine Anspielung auf Elon Musk, dem laut US-Medien eine Position in einer möglichen Regierung des Republikaners versprochen wurde.

Harris kündigt eine Einwanderungsreform an, den Schutz der Krankenversicherungen und verspricht: "Wenn der Kongress mir als Präsidentin ein Gesetz für ein landesweites Abtreibungsrecht vorlegt, werde ich es mit Stolz unterschreiben." Der Jubel ist ohrenbetäubend. Abtreibungen sind eines der wichtigsten Wahlkampfthemen, für viele Wählerinnen das wichtigste. Der konservativ dominierte Supreme Court hatte das allgemeine Abtreibungsrecht 2022 gekippt. Seither können die Bundesstaaten selbst die Regeln festlegen. In manchen gelten seither äußerst strenge Verbote von Schwangerschaftsabbrüchen.

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Minute um Minute ist es voller geworden, ein Meer aus Köpfen erstreckt sich bis zum Obelisken, als die Kandidatin zum Ende kommt. "Ich verspreche, nach Gemeinsamkeiten und vernünftigen Lösungen zu suchen, um Ihr Leben zu verbessern." Sie werde auf Experten hören, aber auch auf Betroffene ihrer Entscheidungen. Sie glaube im Gegensatz zu Donald Trump nicht, dass andersdenkende Menschen der Feind sind. "Er will sie ins Gefängnis stecken. Ich werde ihnen Platz am Tisch machen." Sie verspricht, das Land immer über ihre Partei oder sich selbst zu stellen. Trump, sagte Harris am Anfang, schere sich nur um seine eigenen Probleme: "Von Rache besessen, von Groll verzehrt und auf unkontrollierte Macht aus".

Nach fast exakt 30 Minuten, kurz bevor die Zehntausenden wieder nach Hause strömen, wiederholt Harris noch einmal, worum es ihr geht: "In sieben Tagen haben wir die Macht, die Seite umzuschlagen. Und das nächste Kapitel zu schreiben."

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