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Blitzanalyse: Merz krampft sich zum Sieg – und fünf andere Lehren



Friedrich Merz zittert sich zum Sieg, die Koalitionsfrage ist offen – und beim Hype kommt es aufs richtige Timing an. Hier kommt die Blitzanalyse aus dem stern-Hauptstadtbüro.

Merz zittert sich zum Sieg

Kurzes Zögern, dann bricht doch noch Jubel aus in der CDU-Parteizentrale. Aber man hat Parteimitglieder sich schon stärker über so einen klaren Wahlsieg freuen sehen. Der Grund ist einfach: Die Union gewinnt die Wahl deutlich, scheitert aber wohl an der intern gesetzten 30-Prozent-Marke. 

Es ist ein Zittersieg für Friedrich Merz. Die ganze Polarisierung der letzten Woche, wofür? Und hätte nach dem Ampel-Chaos nicht viel mehr drin sein müssen? Gegen einen Kanzler und seine Rest-Koalition, die seit Wochen stehend K. o. ist? Fürs Erste bleibt nur die Hoffnung, dass es wenigstens für ein Zweierbündnis mit der SPD reicht.   

"Katastrophe", schrieb ein führender Christdemokrat schon um kurz nach 18 Uhr. Jedes Endergebnis unter 30 Prozent dürfte Merz' Standing in der Partei schädigen. Jetzt beginnt für ihn das Zittern um die symbolhafte Schwelle. Aus Bayern wird schon mal vorsorglich auf das eigene starke Ergebnis in dem Bundesland hingewiesen.

Es wird ein langer Abend

Selten schien die Floskel so passend wie an diesem Sonntag: Es dürfte ein langer Abend werden. Noch zeichnet sich keine klare Koalitionsoption ab, zudem kratzen mit FDP und BSW zwei Parteien an der 5-Prozent-Hürde. Kommt auch nur eine der Parteien in den Bundestag, wird die Regierungsbildung schwer. Für ein stabiles Zweierbündnis dürfte es dann kaum reichen, Merz bräuchte neben der SPD wohl noch einen weiteren Partner. Das hätte nur Nachteile: In der Union dürfte ein Streit darüber losgehen, wer der dritte Partner sein soll, die Koalitionsverhandlungen würden komplizierter, sie würden auch länger dauern – ausgerechnet in einer Zeit, in der das Land schleunigst eine handlungsfähige Regierung braucht. Entsprechend nervös blicken die Parteiführungen jetzt auf die weiteren Hochrechnungen.

Ohne die SPD geht nix

Gespenstische Stille in der SPD-Parteizentrale, als der rote Balken bei 16 Prozent stehen bleibt – ein neuer historischer Tiefstwert. Kanzlerpartei? Vorbei. 

Ohne die SPD wäre zwar keine Koalition möglich, das ist die quasi-gute Nachricht. Die schlechte: kommt eine der kleinen Parteien doch noch rein, müsste die SPD ein Dreierbündnis eingehen, im Zweifel sogar mit den missliebigen Liberalen. Stabilität: Fehlanzeige. Opposition? Praktisch keine Option. Das alles erschwert den dringend notwendigen Erneuerungsprozess der SPD, die nun vor turbulenten Stunden steht. 

AfD: ein Sieg ohne Macht – vorerst

Sicher ist: Auch wenn die Partei am Ende des Abends unter der 20-Prozent-Marke bleibt, ist die AfD der größte Wahlsieger. Die Partei kann ihr Ergebnis beinahe verdoppeln. Und doch bleibt sie ohne Gestaltungsmacht. Garantiert. Denn niemand wird mit ihr zusammenarbeiten, geschweige denn koalieren. Gleichwohl markiert der Erfolg einen wichtigen Zwischenschritt auf dem Weg in eine Regierung. Denn das bleibt das Ziel von Parteichefin Alice Weidel.  

Mit etwa 20 Prozent hat sie als Kanzlerkandidatin die Erwartungen ihrer Partei erfüllt. Sie besitzt nun das Mandat, die AfD auf eine Anschlussfähigkeit ab dem Jahr 2029 auszurichten. Die anderen Parteien im Bundestag werden sich umstellen müssen. So wie in den ostdeutschen Landtagen wird es schwieriger, den Zugang der AfD zu parlamentarischen Ämtern einzuschränken.

Die Grünen haben die treuste Stammwählerschaft 

Es ist beachtlich: Der Klimawandel interessiert gesellschaftlich nicht groß, die Grünen waren Teil einer historisch unbeliebten Regierung, sie zogen mit dem Mann in den Wahlkampf, der für viele nur für das missglückte „Heizungsgesetz“ steht – und trotzdem schneiden sie so schlecht nicht ab. Die Grünen scheinen ihr Ergebnis von 2021 annähernd halten zu können. Oder jedenfalls verlieren sie nicht so viel wie ihre Ampelpartner SPD und FDP. 

Zwar ist die Partei damit meilenweit von der Vision „Volkspartei“ entfernt, wie es sich Robert Habeck ausmalt. Auch weit davon, dass ein grüner Kanzlerkandidat tatsächlich Kanzler werden könnte. Doch scheinen die Grünen auf eine treue Stammwählerschaft zählen zu können. Ob es am Ende für eine angestrebte Regierungsbeteiligung reicht, ist offen.

Ein Hype braucht das richtige Timing

Das Wunder, welches Olaf Scholz sich und den Seinen versprochen hatte, gab es bei dieser Wahl. Nur nicht für SPD. Sondern für die Linkspartei. Noch im September war sie so weit unten, dass sie manchen Wahlumfragen überhaupt nicht mehr auftauchte. Dann kam der Januar und eine von Friedrich Merz initiierte Abstimmung über die Migrationspolitik, die das Land polarisierte. Und plötzlich war die Linke lazarusartig wieder da. Die Parteiführung war geschlossen, die Spitzenkandidatin zog in den sozialen Medien, die Themensetzung zielte in die Lücken, die die anderen Parteien ließen.

Der Erfolg der Linken zeigt auch: ein Hype braucht ein gutes Timing. Auch Sahra Wagenknecht erlebte mit ihrem vor rund einem Jahr gegründeten Bündnis einen Rausch, der ihre Partei ins Europaparlament und in drei ostdeutsche Landtage trug. Doch seitdem gibt es viel internen Streit. Jetzt muss Wagenknecht sogar um den Einzug in den Bundestag zittern.

Höchste Mobilisierung im vereinigten Deutschland

Noch nie seit der Wiedervereinigung haben sich so viele Bürgerinnen und Bürger an einer Bundestagswahl beteiligt: Das ZDF schätzt die Wahlbeteiligung auf 83 Prozent, die ARD sogar auf 84 Prozent. 2021 waren es noch 76,4 Prozent. Und bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990, die ein historisches Ereignis war, knapp 78 Prozent.

Damit haben sich Millionen Menschen mehr an der Wahl beteiligt als vor dreieinhalb Jahren, insgesamt vermutlich mehr als 50 Millionen. Das zeigt: Die politische Polarisierung der vergangenen Wochen und Monate hat zu einer sehr hohen Mobilisierung geführt.

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