Mehr als 700 Seiten stark ist Angela Merkels Autobiografie, die heute erscheint. Vor drei Jahren veröffentlichte der Journalist Ralph Bollmann eine ebenso lange Biografie über die Kanzlerin. Im Gespräch mit ntv.de sagt er, was ihn an ihrem neuen Buch überrascht hat und warum er eine "leise Enttäuschung" empfindet.
ntv.de: Herr Bollmann, Sie haben vor drei Jahren eine Biografie Angela Merkels veröffentlicht. Haben Sie nach Lektüre von Merkels Autobiografie das Gefühl, ihr Buch umschreiben zu müssen?
Ralph Bollmann: Nein, umschreiben muss ich es nicht. Insofern bin ich erleichtert. Aber ich empfinde auch eine leise Enttäuschung.
Warum das?
Auf der reinen Faktenebene steht sehr wenig in Merkels Buch, was noch nicht bekannt war. Interessant ist eher, wie sie die Dinge darstellt, was sie ausführlich erzählt und was sie auch weglässt.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Sie macht ihre Rolle als Frau und Ostdeutsche ganz groß. Während ihrer Kanzlerschaft hielt sie diese Themen eher klein, zumindest am Anfang. In ihrem Buch schildert sie in krassen Farben, wie schwierig für viele Ostdeutsche der Umbruch nach 1990 war.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine debattiert Deutschland vor allem die Versäumnisse und Fehler der Ära Merkel. Zeigt sie auch Selbstkritik?
Wenn sie Fehler einräumt, dann am ehesten dort, wo sie den Konservativen in der eigenen Partei aus ihrer Sicht zu stark nachgegeben hat. Zum Atomausstieg sagt sie etwa, der Fehler sei nicht der Ausstieg nach Fukushima gewesen. Sondern ein Jahr zuvor, den rot-grünen Atomkompromiss aufzukündigen und die Laufzeiten wieder zu verlängern. Interessant fand ich auch, wie sie mit ihren innerparteilichen Gegnern umgeht. Politiker wie Roland Koch werden in zwei, drei Sätzen abgehandelt. Das war’s. Auch Friedrich Merz kommt nur relativ knapp vor. Da will sie wohl signalisieren, da steht sie drüber. Die Auseinandersetzung mit der CSU behandelt sie dagegen sehr ausführlich. Horst Seehofer kommt sehr schlecht weg.
Da ging es vor allem um den Streit 2018, als die CSU eine strengere Migrationspolitik forderte und zwischenzeitlich die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU infrage stand?
Genau. Das fängt schon 2015 an mit der Entscheidung, die Grenze für die Flüchtlinge nicht zu schließen. Seehofer ließ sich in der entscheidenden Nacht am Telefon verleugnen. Auf dem CSU-Parteitag 2015 hielt er ihr volle zehn Minuten lang eine Standpauke. Spannend fand ich dabei, was bei ihr als Methode der CSU erscheint. Erst Dinge durchdrücken und später sagen: Die böse Frau Merkel war’s. So war es beim Atomausstieg, den Bayern und Baden-Württemberg nach Fukushima gefordert hatten, und bei der Abschaffung der Wehrpflicht, die CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vorantrieb.
Politiker neigen bei ihren Autobiografien zur Schönfärberei. Ist sie zur Selbstkritik in der Lage?
Natürlich versucht sie, die Dinge in eine große Erzählung einzuordnen. Was nicht hineinpasst, lässt sie weg. Aber sie weiß natürlich, dass bestimmte kritische Punkte vorkommen müssen. Darauf verwendet sie die letzten hundert Seiten des Buchs, wo sie noch einmal auf Themen wie Atomausstieg, Wehrpflicht, Energiepolitik eingeht. Sie gesteht durchaus Fehlentscheidungen ein. Dann sagt sie aber immer wieder: Unter den gegebenen Umständen, beispielsweise mit dem jeweiligen Koalitionspartner, ging es eben nicht anders.
Zur Lage der Bundeswehr sagt sie, die SPD habe keinen höheren Verteidigungsetat gewollt. Aber reicht so eine schulterzuckende Antwort für eine Bundeskanzlerin?
Es war tatsächlich so, dass die SPD sich oft quergestellt hat, etwa bei der Drohnenbewaffnung. Aber Merkel hat das Thema nie zur politischen Priorität erhoben. Eine ihrer Lehren aus der DDR ist: Bestimmte Dinge kann man nicht ändern. Ich glaube, so hat sie auch auf viele Probleme in der Bundesrepublik geblickt. Neben der Bundeswehr hat sie auch bei der Deutschen Bahn gesagt: Die ist nicht reformierbar. Sie hat außerdem die Erfahrung gemacht, wie veränderungsresistent Deutschland oftmals ist. Am Ende hat sie davor ein Stück weit kapituliert. Wenn Dinge unpopulär und unreformierbar erschienen, hat sie kein politisches Kapital investiert.
2014 wurde etwa das Zwei-Prozent-Ziel der NATO beschlossen, doch die deutschen Bemühungen dahingehend blieben überschaubar.
Das war ein zentrales Problem ihrer späten Kanzlerinnenjahre: Sie hatte in ihrer Laufbahn zu viele Dinge scheitern sehen, um noch Veränderungen wagen zu wollen. Nach der Krim-Annexion 2014 war sie aber nicht untätig. Sie war diejenige, die durchsetzte, dass die EU überhaupt Wirtschaftssanktionen verhängte. Sie war diejenige, die die Franzosen davon abhielt, den Russen noch einen Hubschrauberträger zu liefern.
Sie selbst sagt außerdem, sie habe früh alle Illusionen über Putin verloren. Hätte sie nicht viel stärker auf die Krim-Annexion reagieren müssen, als sie es getan hat?
Seit dem 24. Februar 2022 wurde Merkel teils unterstellt, sie sei eine Putin-Freundin gewesen. Dabei war sie eine der ersten westlichen Politikerinnen, die erkannt hat, wie gefährlich er ist. Deswegen hat sie ihn mit äußerster Vorsicht behandelt. Sie wollte eine Eskalation vermeiden. Ob das richtig war, darüber lässt sich im Rückblick streiten.
Das Jahr 2015 war besonders prägend für ihre Amtszeit. Hunderttausende Flüchtlinge kamen nach Deutschland. Um mit Merkels Wort zu fragen: War das alternativlos?
Die Debatte um ihre Flüchtlingspolitik 2015 war ursprünglich ihr Impuls, ein Buch zu schreiben. Erst später wurde daraus eine komplette Autobiografie. Im Kapitel zu 2015 legt sie jetzt einen Schwerpunkt darauf, wie sie die Flüchtlingszahlen wieder heruntergebracht hat. Das Abkommen mit der Türkei nimmt großen Raum ein, auch die Kritik daran. Wichtige Gründe für diese Kritik lässt sie aber weg: den Versuch Erdogans, den Comedian Jan Böhmermann für ein Schmähgedicht zu belangen, und später dann die Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel.
Ihre Kritiker sagen, sie habe 16 Jahre Politik nach Umfragen gemacht, sich an die Macht geklammert und die AfD groß gemacht. Ist das haltbar?
Das ist zu kurz gedacht. Fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs verblasst die Erinnerung an die Exzesse des Nationalismus. Vermutlich ist es eine Form von europäischer Normalisierung im negativen Sinn, dass es eine solche Rechtsaußen-Partei mittlerweile auch in Deutschland gibt. Lange hieß es, am Aufstieg der AfD ist auch die Große Koalition schuld. Weil es keine echte Opposition in der Mitte gab. Aber jetzt hatten wir drei Jahre Ampel, und die Umfragewerte der AfD haben sich noch einmal fast verdoppelt. Nur an Merkels Konsenspolitik kann es nicht gelegen haben.
Bei aller Kritik, geht man vielleicht auch zu schnell über ihre Leistungen als Krisenmanagerin hinweg? Da waren die Eurokrise, die Ukraine-Krise, die Corona-Krise, Trump.
Die große Leistung Merkels war Stabilität. Wahrscheinlich zu viel Stabilität. Aber wie wichtig das ist, sehen wir gerade. Die drei Ampeljahre waren das Gegenteil von Stabilität, und das hat Folgen auf nationaler und internationaler Ebene. Womöglich war der Abgang Merkels neben anderen politischen Turbulenzen im Westen sogar einer der Gründe, warum Putin glaubte, im Februar 2022 losschlagen zu können. Er dachte wohl nicht, dass sich die Europäer ohne sie auf eine gemeinsame Position einigen könnten wie 2014. Da hat er sich allerdings getäuscht.
Hätte Merkel so eine Dreierkoalition wie die Ampel zusammenhalten können?
Sie hat es ja versucht. 2017 wollte sie eine Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen. Doch sie hat es nicht geschafft, Lindner bei der Stange zu halten. Im Grunde haben Merkel und Scholz die gleichen Erfahrungen mit der FDP gemacht. Dazu schreibt sie wenig in dem Buch. Sie hätte damals wohl gerne Neuwahlen gehabt, um anschließend eine schwarz-grüne Koalition zu schließen. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn demnächst ausgerechnet ihr einstiger Intimfeind Friedrich Merz so eine schwarz-grüne Koalition zustande brächte.
Sie sagten, Merkels große Stärke war Stabilität. War da noch mehr?
Sie war bei nächtelangen Verhandlungen sehr gut darin, Kompromisse zu finden. Ob das auch zu praktischen Ergebnissen führte, ist eine andere Frage. Zum Beispiel bei den Klimazielen. Was man aber erst im Kontrast zu Olaf Scholz so richtig wahrnimmt, ist ihr Charisma.
Charisma? Merkel?
Das wurde ihr oft abgesprochen, ja. Aber sie hatte es, in einer ganz eigenen Form. Sie wirkte in ihrer Amtszeit wie eine Frau, die die Ärmel hochkrempelt und die Stücke wieder zusammensetzt, die irgendwelche Macho-Männer zerdeppert haben. Sie wirkte sehr bodenständig. Obwohl sie in Ost-Berlin zwischen Akademie der Wissenschaften und Prenzlauer Berg eine Art Bohème-Leben führte. Aber sie hatte diesen berlinisch-brandenburgischen Tonfall, bis heute spricht sie in einfachen Worten. Dadurch wirkte sie vernünftig und pragmatisch. Was sie noch verstärkte, wenn sie von Rezepten für Kartoffelsuppe und Pflaumenkuchen erzählte. So hat sie es auch menscheln lassen. Etwas, das Scholz völlig abgeht.
In Ihrer Biografie, die vor drei Jahren erschien, verglichen Sie Merkel mit Helmut Schmidt, stellten sie in eine Reihe mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Ist sie für Sie immer noch eine große Kanzlerin?
Ja, schon. Der Hauptgrund dafür ist die Wucht dieser Krisen, die größer war als das meiste, was wir vorher erlebt haben. Deutschland und Europa stabil gehalten zu haben und auch für die Stabilität der Welt einen Beitrag geleistet zu haben, das war schon eine große Leistung. Bei aller Kritik, die man im Nachhinein an ihr üben kann.
Mit Ralph Bollmann sprach Volker Petersen