Es ist die große Frage in der Materialschlacht im verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine: Wann kann Russland seine enormen Verluste nicht mehr ersetzen, um die massive Invasion aufrechtzuerhalten? Eine Analyse sieht im Laufe des nächsten Jahres Probleme aufkommen.
Die Erzählung, die der Kreml und seine Unterstützer verbreiten, ist einfach: Russlands Armee sei so stark, dass es auf lange Sicht nicht möglich sei, sie zu stoppen. Und das nicht zuletzt wegen des unerschöpflichen Nachschubs an Soldaten und Kriegsgerät. Ein Narrativ, dem die Ukraine, ihre Verbündeten und viele Experten widersprechen.
Eines der Ziele Kiews ist es, Russland den höchstmöglichen Preis zahlen zu lassen für jeden Meter, den es vorrückt. Bedeutet: den Kreml-Truppen maximale Verluste zufügen, damit sie den Krieg irgendwann nicht mehr aufrechterhalten können. Laut einer kürzlich in der US-Zeitschrift "Foreign Policy" erschienenen Analyse könnte es in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres so weit sein, dass Russland die Kanonenrohre für Panzer und Artillerie ausgehen.
"Unter den Engpässen bei den Waffen steht an erster Stelle Russlands Unfähigkeit, großkalibrige Kanonen zu ersetzen", schreiben Marc De Vore, Dozent an der Schule für Internationale Beziehungen an der Universität von St. Andrews, und Alexander Mertens, Professor für Finanzen an der Kiew-Mohyla-Akademie.
Zu wenig Maschinen für Kanonenrohr-Produktion?
Das Kernproblem soll in einem Mangel an Drehwalzen bestehen. Russland verfüge nur über zwei solcher Walzen, schreiben De Vore und Mertens. Und die massiven Maschinen mit 20 bis 30 Tonnen Gewicht könnten nur etwa zehn Rohre pro Monat produzieren. Das macht in der Summe rund 20 neue Kanonenrohre monatlich - und reicht bei Weitem nicht aus, um die massiven Verluste auszugleichen.
Laut ukrainischen Angaben, die nicht unabhängig überprüft werden können, hat Russland seit Februar 2022 knapp 300 Kampfpanzer und 640 Artilleriegeschütze pro Monat verloren. Nach Zahlen von Open-Source-Forschern, die frei zugängliches Bild- und Videomaterial von zerstörtem Kriegsgerät auswerten, sind es immer noch rund 100 Panzer und 220 Artilleriegeschütze pro Monat.
"Der russischen Maschinenbauindustrie fehlen die Fähigkeiten, Drehwalzen zu bauen. Der Weltmarkt wird von einem einzigen österreichischen Unternehmen, GFM, dominiert. Es ist unwahrscheinlich, dass Russland weitere Walzen beschafft und seine Produktionsrate erhöht. Und weder Nordkorea noch Iran verfügen über nennenswerte Bestände geeigneter Ersatzrohre", heißt es in der "Foreign Policy"-Analyse. Nur eine Entscheidung Chinas, Rohre aus eigenen Beständen zu liefern, könnte Russlands Krise in diesem Bereich abwenden, schreiben De Vore und Mertens.
Für den hohen Bedarf der Streitkräfte soll Russland Panzer- und Artillerierohre aus den umfangreichen Sowjet-Beständen entnehmen. Doch diese Bestände sind seit Februar 2022 erheblich geschrumpft. "Bei der Kombination der derzeitigen Verlustraten auf dem Schlachtfeld, der Wiederverwendung aus Beständen und der Produktion sieht es so aus, als würde Russland irgendwann im Jahr 2025 keine Kanonenrohre mehr haben."
Viele andere Experten rechneten in der Vergangenheit damit, dass Russland erst später größere Probleme bei schwerem Kriegsgerät bekommen könnte. Panzer, Schützenpanzer und Artillerie aus Sowjetbeständen sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Kreml-Truppen ihre Frontverluste immer wieder ersetzen können.
Engpässe auch bei Artilleriemunition möglich
Russlands Kriegswirtschaft steuere auf eine Sackgasse zu, heißt es von den Autoren. Der Kreml könne die Produktion nicht schnell genug steigern, um die Verluste auf dem Schlachtfeld zu kompensieren. Auch bei Artilleriegeschossen. Die in der Ukraine eingesetzten Geschosse würden schon jetzt zur Hälfte aus nordkoreanischen Beständen bestehen. "Irgendwann in der zweiten Jahreshälfte 2025 wird Russland in mehreren Waffenkategorien mit gravierenden Engpässen konfrontiert sein", glauben De Vore und Mertens.
Sie räumen zwar ein, nicht genau wissen zu können, wann Russland mit den Waffentypen an seine Grenzen stoßen werde - aber der Kreml könne wenig tun, um den Tag abzuwenden. Die russische Verteidigungsindustrie sei bereits jetzt vollständig ausgelastet, und die Unternehmen würden mit den Streitkräften um das knappe Personal konkurrieren.