Priorität eins habe ab sofort "der Faktor Zeit", sagte Verteidigungsminister Pistorius kurz nach Amtsantritt. Doch laut Bilanz von Wirtschaftsexperten ist Deutschland beim Waffenkauf noch immer viel zu langsam. Es fehlen Entscheidungen und es fehlt Geld.
Es war als Rundum-Erfolgsmeldung gedacht: Deutschland unterstützt die Ukraine mit weiteren zwölf Panzer-Haubitzen aus heimischer Produktion. Das verkündete Verteidigungsminister Boris Pistorius vergangene Woche beim Treffen der Ukraine-Unterstützerstaaten in Ramstein. Kiews Truppen können die zielgenauen, hochmodernen Artilleriegeschütze dringend brauchen. Der Auftrag geht an die deutschen Produzenten KMW und Rheinmetall. Liest sich sehr gut.
Erst auf den zweiten Blick wirft die Meldung eine Frage auf: Wäre das nicht eine gute Gelegenheit gewesen, auch für die Bundeswehr ein paar Haubitzen zu bestellen?
Nach Einschätzung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) wäre es nicht nur gut, sondern dringend nötig gewesen, diese Gelegenheit zu nutzen. Denn in den vergangenen 20 Jahren ist der Haubitzen-Bestand im deutschen Heer von knapp unter 1000 auf knapp über 100 geschmolzen. Auf nur noch 121 Artillerie-Haubitzen kam die Truppe laut Bericht der Wissenschaftler im Jahr 2021.
2000 Kampfpanzer weniger als im Jahr 2004
Seitdem stockt sie den Bestand wieder auf. Man erinnere sich: Februar 2022, Überfall auf die Ukraine, Zeitenwende, Bundeskanzler Olaf Scholz sieht Deutschland als "militärische Führungsmacht in Europa", 100 Milliarden Sondervermögen und so. Seitdem, so bilanzieren die Forscher, bestellt die Bundesregierung für die Truppe nun durchschnittlich acht bis neun weitere Haubitzen pro Jahr. Um bei diesem Tempo zum Beispiel wieder den Bestand von 2004 zu erreichen, braucht es: 100 Jahre.
Die Kieler Forscher haben nicht nur die Beschaffung von Haubitzen betrachtet, sondern analysieren auch, was bei Kampfjets, Panzern oder bewaffneten Fahrzeugen passiert. Spoiler: zu wenig. 2021 hatte die Bundeswehr 339 Kampfpanzer zur Verfügung. Im Jahr 2004, mit dem das IfW vergleicht, hielt Deutschland einen Bestand von 2398 für angemessen, gute 2000 mehr also. Auch bei anderen wichtigen Waffengattungen klaffen große Lücken zwischen damals und heute.
Als die Bundesregierung 18 Leopards aus dem Truppenbestand an die Ukraine geliefert hatte, bestellte sie im Mai 2023 wieder Leopards nach. Exakt 18. Obwohl ein Rahmenvertrag mit dem Hersteller über 123 Fahrzeuge bestand. Von Sicherheitsexpertinnen und -experten kam damals Kritik. Schließlich wurde auch der Kauf der restlichen 105 Kampfpanzer vom Haushaltsausschuss bewilligt. Im Juli 2024, mehr als ein Jahr später.
"Deutschland hat ein Geschwindigkeitsproblem", bilanzieren die Kieler Forscher mit Blick auf die Beschaffung. Solche Kritik besteht seit Jahrzehnten, doch das IfW weist nun für eine ganze Liste von Waffengattungen genauestens nach, dass sich auch mit Sondervermögen und Zeitenwende noch nicht genug verbessert hat. Dieses Ergebnis müsste alarmieren. Hat doch Verteidigungsminister Boris Pistorius kurz nach Amtsantritt eine neue Stoßrichtung in der Beschaffung ausgegeben: "Priorität eins hat ab sofort bei allen Beschaffungen der Faktor Zeit", sagte der Minister im Frühjahr 2023.
Künftig würden die truppeneigenen Expertinnen und Experten ihr Wissen zu den Anforderungen an ein neues Produkt früher einbringen, und dann werde der Prozess abgeschlossen, ließ Pistorius wissen. Ein Freeze of Design sollte sicherstellen, dass der Beschaffungsprozess nicht durch immer neue Sonderwünsche gebremst werde - wie es in der Vergangenheit quasi standardmäßig der Fall war.
Die Studie der Wirtschaftsforscher aus Kiel bilanziert dem Minister durchaus Teilerfolge. Den "100 Jahren" für die Haubitzen steht eine beherzte Entscheidung für den neuen Kampfjet F-35 gegenüber, der die überalterten Tornados ersetzen soll. Ein Mammutprojekt, auf das sich die Große Koalition unter Angela Merkel nie einigen konnte. Pistorius hat es auf den Weg gebracht.
"Sehenden Auges in die nächste Fähigkeitslücke"
Doch die Gesamtansicht des Beschaffungswesens zeigt: Die neuen Maximen - Tempo, keine Goldrand-Lösungen zu horrenden Preisen, sondern marktverfügbares Material einkaufen - greifen noch zu selten. Die Unions-Opposition etwa wartet schon seit Monaten auf die Vollzugsmeldung für den Neukauf von Einsatzbooten für das Kommando Spezialkräfte der Marine (KSM). Einmal war das Verfahren schon an überhöhten Anforderungen seitens der Truppe gescheitert, als Pistorius übernahm.
Ein neuer Anlauf mit der neuen Stoßrichtung und dem Ziel: Mitte 2023 Start des Wettbewerbs, Mitte 2024 Billigung des Kaufs durch das Parlament, Mitte 2025 erste Auslieferung des Bootes. Nun geht es auf Ende 2024 zu, und die Union wartet noch darauf, dass die Kaufgenehmigung für die Boote auf der Tagesordnung des Haushaltsausschusses erscheint.
Warum der Beschaffungsvorgang dem Zeitplan hinterherhinkt? Das Verteidigungsministerium bleibt der Opposition die Erklärung bislang schuldig. "Anstatt den Spezialkräften just in time neue Einsatzboote zur Verfügung zu stellen, laufen wir sehenden Auges in die nächste Fähigkeitslücke herein", sagt Unions-Haushaltspolitiker Ingo Gädechens. "Die Soldatinnen und Soldaten fragen sich zurecht: Warum schafft es selbst Boris Pistorius nicht, solche überschaubaren Projekte erfolgreich umzusetzen?"
Was sich am Beispiel Einsatzboote zeigt, deckt sich mit der Kieler Statistik: "Die deutschen Vergabeverfahren sind nach wie vor langsam und bürokratisch", erklären die Wirtschaftsexperten. Sie fordern, Deutschland solle sich stärker in den europäischen Verteidigungsmarkt integrieren. Die 12 verschiedenen Panzertypen, die in Europas Armeen genutzt werden, sind ihnen Beweis für zu viel kurzsichtige Industriepolitik. Mit gemeinsamen Bestellungen würden der Industrie Anreize für Investitionen gegeben und es würden auch die Stückpreise sinken.
2025 kommt eine minimale Steigerung
Doch steht und fällt die Fähigkeit, sich mit modernen Waffen zu verteidigen, letztlich mit dem Wehretat. Den sehen die Kieler Forscher deutlich zu niedrig. Laut Ampelkoalition sollte das Budget nach 2022 deutlich und kontinuierlich steigen und das NATO-Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP), verlässlich erreichen. Doch davon ist keine Rede mehr. Die Bundesregierung schafft die zwei Prozent knapp mit dem eingerechneten Sondervermögen und einigen eher fachfremden Ausgaben.
2025 ist mit insgesamt 53,3 Milliarden Euro erneut nur eine minimale Steigerung des Budgets geplant, um 1,25 Milliarden Euro. Das wird in etwa für die Gehaltssteigerungen im Verteidigungswesen reichen, Mehrausgaben für Waffen sind nicht drin. Für 2026 ist derzeit gar kein Anstieg vorgesehen.
CDU-Verteidigungspolitiker Johann Wadephul wurde in der Bundestagsdebatte am Mittwoch deutlich: Unterm Strich würden die Investitionsausgaben sogar sinken, der Wehretat sei faktisch ein Kürzungshaushalt. "Sie nehmen der Bundeswehr Geld weg", fasst Wadephul zusammen. Inhaltlicher Widerspruch kommt nicht vom Bundesverteidigungsminister.
Der pocht stattdessen auf die Verantwortung der Union, die die Bundeswehr in ihren Regierungsjahren mit in die Mangelsituation geführt hat. Pistorius sagt aber auch: "Wir müssen auf absehbare Zeit mehr Geld in die Hand nehmen für unsere Sicherheit", auch mehr als zwei Prozent des BIP. "An dieser Wahrheit führt kein Weg vorbei." Bei seinem Chef, Kanzler Olaf Scholz, ist Pistorius mit diesem Plädoyer noch nicht durchgedrungen. Sonst wäre wohl für 2026 keine Nullrunde im Wehretat geplant.