SPD-Mitglieder distanzieren sich vom Kurs der Partei in der Migrationspolitik. Jetzt bekommen sie Unterstützung von weiteren Bundestagsabgeordneten: „Auch wir halten den Kurs, der gerade in der SPD in der Migrations- und Asylpolitik eingeschlagen wird, für falsch.“
Der Streit in der SPD um den Kurs in der Asyl- und Sicherheitspolitik spitzt sich zu. Besonders scharfe Kritik kommt jetzt aus der Bundestagsfraktion. 35 Abgeordnete haben gestern auf einen offenen Brief reagiert, in dem Sozialdemokrat:innen vor einigen Tagen ihre Genoss:innen in der Regierung und im Bundestag zu einem Beilenken auffordern und einen „Diskurs der Stigmatisierung“ anprangern. „Auch wir halten den Kurs, der gerade in der SPD in der Migrations- und Asylpolitik eingeschlagen wird, für falsch“, heißt es in dem Text, den viele der Abgeordneten zeitgleich in den Sozialen Medien teilten.
Zwar sei es richtig, nach einem Anschlag wie dem von Solingen auf das Bedürfnis nach mehr Sicherheit einzugehen. Einige der Maßnahmen, wie etwa das Waffenrecht zu verschärfen oder „Hassbotschaften zu stoppen“ halten sie daher für richtig. Dabei müsse man aber mit Augenmaß „zwischen Sicherheit und Freiheitsrechten abwägen“. „Nicht jede Rechtsverschärfung ist zweckdienlich, nicht jede neue Kompetenz für Sicherheitsbehörden ist notwendig und verhältnismäßig“, heißt es in der ausführlichen Version der Antwort, die auf der Webseite der Abgeordneten Carmen Wegge zu lesen ist.
Zu den Unterzeichner:innen zählen mit Dirk-Ulrich Mende, Annika Klose und Nadja Sthamer mehrere Abgeordnete, die bereits den offenen Brief mit verantwortet haben. Zu ihnen kommen nun weitere wie Hakan Demir, Fabian Funke oder die Digitalpolitikerin Anna Kassautzki. „Wir teilen Eure Trauer, Eure Wut und Eure Zweifel angesichts des aktuellen Diskurses“, schreiben sie an die Unterzeichner:innen des offenen Briefes mit dem Titel „Eintreten für Würde“ gerichtet. Er soll inzwischen laut Initiator:innen von mehr als 12.000 Menschen unterzeichnet worden sein, darunter auch tausende Parteimitglieder.
Ampel will anlasslose Personenkontrollen und Durchsuchungen fast überall
„Migration ist nicht die Ursache von Anschlägen“
Vor allem in einem Punkt schließen sie sich der Kritik an: „Alle die aktuelle sicherheitspolitische Fragen auf Migrationspolitik herunterbrechen, machen es sich viel zu einfach“, heißt im Text. „Migration ist NICHT die Ursache von Anschlägen.“ Wer nach terroristischen Anschlägen mehr Grenzkontrollen, mehr Abschiebungen und mehr repressive Maßnahmen in der Migrationspolitik fordere, unterstelle falsche Zusammenhänge und verschiebe den Diskurs. „Dabei sollten wir das Gegenteil tun: Haltung zeigen, uns der Agenda der Rechten entgegenstellen und diese konstruierte Argumentationskette durchbrechen.“
Die Abgeordneten kritisieren besonders den geplanten Ausschluss einiger Asylsuchender von Sozialleistungen, anlasslose Kontrollen, den Abgleich biometrischer Daten sowie die von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) angeordneten Grenzkontrollen. Geplant ist etwa für bestimmte Geflüchteten, die bereits in einem anderen EU-Staat registriert sind, nach zwei Wochen alle Sozialleistungen zu streichen. Das Bundeskriminalamt soll mit dem biometrischen Abgleich von Stimmproben und Gesichtern auf den sozialen Medien nach Personen suchen dürfen. Die Polizei soll außerdem an vielen Orten Menschen ohne Verdacht anhalten und durchsuchen dürfen. Bisher brauchte sie dafür einen Anlass. Die Abgeordneten schreiben, sie hätten bereits in den vergangenen Tagen innerhalb der Fraktion versucht, diese Maßnahmen zu verhindern.
Gerade jetzt dürften nicht die Mittel für wesentliche politische Maßnahmen wie Integrationskurse, psychosoziale Beratung oder den Haushalt der Integrationsbeauftragten gekürzt werden. „Statt asylpolitischer Abwehrkämpfe wollen wir uns wieder Projekten widmen, die das Leben von Menschen leichter machen und den Geist der Solidarität atmen“, schreiben sie und nennen als Beispiele Erleichterungen des Familiennachzugs oder einen schnelleren Zugang zu Arbeit und eigenem Lebensunterhalt.
So will die Bundesregierung Asyl- und Polizeigesetze verschärfen
Olaf Scholz sieht sich im Kurs bestärkt
Der Gegenwind aus der Partei für den Kurs von Kanzler Olaf Scholz in der Asylpolitik wird immer stärker. Jetzt wird es darum gehen, wie viele weitere Abgeordnete sich der Kritik anschließen und ob es genug sind, um eine Mehrheit für das geplante Überwachungspaket zu gefährden. Geplant ist derzeit, die Maßnahmen in der zweiten oder dritten Oktoberwoche zu verabschieden, sagte der stellvertretende Fraktionsvize Dirk Wiese dem Parteiblatt Vorwärts.
Ursprünglich sollte der Bundestag das Paket bereits vergangene Woche beschließen. In einer Expert:innenanhörung am Montag hagelte es dann aber von vielen Seiten Kritik. Tags darauf griffen Sozialdemokrat:innen in dem Offenen Brief das „Sicherheitspaket“ und seine Verfechter:innen frontal an. Und auch bei den Grünen ist man nicht darauf bedacht, das Paket möglichst schnell zu beschließen. Die Abstimmung wurde daraufhin verschoben.
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte die Kritik zurück gewiesen. Über seinen Regierungssprecher ließ es mitteilen, er fühle sich von den Unterzeichner:innen des Briefes „in seinem Kurs bestärkt“. Dieser baue auf der Menschenwürde auf und schütze auch „ganz klar das Grundrecht auf Asyl“. Die Initiator:innen konterten das umgehend in ihrem Instagram-Account: „Wir ‚bestärken‘ NICHT den eingeschlagenen Kurs, sondern appellieren eindringlich an unsere SPD-Spitze: Verlasst diesen Kurs!“
Auch Juso-Chef Philipp Türmer stellte im Spiegel klar: „Das ist kein Rückenwind, sondern Gegenwind! Olaf Scholz weiß ganz genau, dass sein Kurs nicht von sozialdemokratischen Werten geleitet ist. Deswegen stellen sich so viele Genossinnen und Genossen dagegen und widersprechen ihm.“
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