
Viele wollten ihn gar nicht mehr als Kanzlerkandidaten haben, doch zum Auftakt des SPD-Wahlkampfes jubeln die Genossen ihrem Olaf Scholz zu. Der liefert Details, wie er Deutschland aus der Wirtschaftskrise führen will und geht seinen Kontrahenten Merz scharf an. Klar wird: Scholz will kämpfen.
Trug der Bundeskanzler da wirklich nur das übliche Sakko oder hat er sich eine unsichtbare Kampfmontur über die Schultern geworfen? Nachdem Beinahe-Sturz des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz durch die eigene Partei hat dieser zur "Wahlsiegkonferenz" der SPD eine gleichermaßen programmatische wie kämpferische Grundsatzrede gehalten. "Was mich jeden Tag aufs Neue antreibt, das ist die Liebe zu den Menschen und zu unserem Land", sagte Scholz mit ungewohnt viel Pathos in der Parteizentrale Willy-Brandt-Haus. "Ich werde in den nächsten 85 Tagen alles, aber auch wirklich alles geben, was ich geben kann, für unser Land und unsere Sozialdemokratie." Scholz forderte von seinen Genossen, von denen viele lieber Boris Pistorius an der Spitze des SPD-Wahlkampfs gesehen hätten, mitzuziehen: "Wenn wir kämpfen, werden wir siegen."
Auch wenn das Programm der SPD zur Bundestagswahl am 23. Februar erst auf einem Sonderparteitag am 11. Januar festgezurrt werden soll, beschrieb Scholz recht detailreich die politischen Inhalte und Ziele seiner Partei für den vorgezogenen Wahlkampf und die Jahre danach. Scholz legte einen Vier-Punkte-Plan zur Ankurbelung der Wirtschaft vor. Er versprach eine Erhöhung des Mindestlohns von derzeit 12,41 auf 15 Euro im Jahr 2026. Er bekräftigte das Versprechen der SPD von einer Entlastung von 95 Prozent der Arbeitnehmer bei der Einkommenssteuer sowie eine höhere Besteuerung der obersten 1 Prozent. Und: "Stabile Renten gibt es nur mit der SPD."
Harte Attacken auf Friedrich Merz
Scholz warb für eine Reform der Schuldenbremse und versprach auch künftig, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen, ohne ein Übergreifen des Krieges auf Deutschland und die weiteren NATO-Staaten zu riskieren. Zugleich griff Scholz den Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz scharf an: Der habe keinerlei Konzepte zur Sanierung der Infrastruktur, seine Ideen zur Rettung der deutschen Automobilindustrie seien ein "Irrweg", die Steuerkonzepte der CDU bedeuteten ab 2028 ein Minus von jährlich 105 Milliarden Euro. Merz sei im Umgang mit Russland ein "Heißsporn" und "unberechenbar". In der Migrationspolitik habe Merz Lösungen blockiert, "es ging ihm ja auch damals schon nur um den Wahlkampf". Dass die Union Arbeitnehmern mit Berufsausbildung die vorzeitige Rente nach 45 Beitragsjahren streichen wolle, sei "schäbig", sagte Scholz.
Zuvor hatten schon die Parteichefs Lars Klingbeil und Saskia Esken scharfe Kritik an Merz geübt. Der Fraktionschef der Union verweigere der deutschen Wirtschaft und den Berufstätigen Entlastungen noch vor der Bundestagswahl. "Man hat ein bisschen den Eindruck, er möchte diese Schlagzeilen für den Wahlkampf haben von einer Wirtschaft, der es schlecht geht, von Arbeitsplatzverlusten, die drohen", sagte Klingbeil. Das sei "Wahlkampf auf dem Rücken der Beschäftigten", sagte Klingbeil. "Das gehört sich nicht, das ist unanständig, das macht man nicht."
Esken beklagte, dass sich Merz auffallend rar mache: "Hat irgendjemand Friedrich Merz gesehen?", fragte Esken in die Runde von Hunderten Wahlkreiskandidaten und ihren Teams, die sich zur "Wahlsiegkonferenz" in Berlin eingefunden hatten. Ihre Antwort: Johlen und "Nein!"-Rufe. Merz selbst verweilte freilich zu dieser Zeit im nordrhein-westfälischen Schmallenberg. Dort wurde er am Vormittag zum Direktkandidaten der CDU für die Bundestagswahl im Hochsauerlandkreis gewählt.
Oberste Priorität: Die Reihen schließen
Die Attacken auf den Oppositionsführer hatten dreierlei Funktion: Die SPD will erstens strategisch den Bundestagswahlkampf auf ein Duell Merz oder Scholz, Union oder SPD zuspitzen. So will sie möglichst viele Merz-Zweifler für sich gewinnen. Zweitens befeuert sie diese Zweifel, indem sie auf Merz' fehlende Regierungserfahrung verweist und seine Verlässlichkeit infrage stellt. Drittens schließt nichts so sehr die eigenen Reihen wie das Einschießen auf einen gemeinsamen Gegner. Und die Reihen zu schließen, ist bei dieser "Wahlsiegkonferenz" nach den Wochen der Unsicherheit über den richtigen SPD-Kanzlerkandidaten fundamental. Mit Blick auf die schwachen Umfragewerte der SPD hatte ja schon der Name der Veranstaltung für Kopfschütteln gesorgt bei vielen Genossen. Die Kandidatendebatte steht nicht nur für eine Entfremdung zwischen Partei und Kanzler, sondern auch für breite Irritationen an der Basis über die Performance der gesamten SPD-Spitze.
"Hört nicht auf die Umfragen, hört nicht auf die Artikel, die jetzt geschrieben wurden", appellierte Klingbeil. Er erinnerte daran, dass die SPD auch drei Monate vor der letztlich siegreichen Bundestagswahl 2021 weit zurücklag. "Wir sind eine Partei für die Aufholjagd", sagte Klingbeil, während "die Jungs von der CDU" überheblich durch Berlin liefen und schon Ministerposten in der kommenden Bundesregierung verteilten. Auch Scholz erinnerte an 2021: "Sie haben sich damals geirrt, sie irren sich auch wieder", sagte Scholz über alle, die der SPD nicht zutrauen, am 23. Februar stärkste Kraft werden zu können. Im Schnitt der großen Umfrageinstitute liegt die SPD derzeit etwa 17 Prozentpunkte hinter der Union.
Scholz präsentiert Vier-Punkte-Plan
"Wir haben die besseren Vorschläge", sagte Scholz und führte seinen Vier-Punkte-Plan für die Wirtschaft aus: Um die Unternehmen im Land künftig mit günstiger, erneuerbarer Energie zu versorgen, brauche es "riesige Stromautobahnen von Nord nach Süd, von Ost nach West". Der Ausbau dürfe aber nicht zu immer weiter steigenden Strompreisen für Verbraucher und Unternehmen durch die Netzentgelte führen. Die SPD wolle ab 2025 "einen festen Deckel einführen, damit werden die Kosten für die Übertragungsentgelte halbiert und auf drei Cent festgeschrieben". Die übrigen Ausbaukosten sollen aus dem Bundeshaushalt zugeschossen werden.
Um Unternehmen in Deutschland zu halten und neue anzulocken, sollen künftig Investitionsausgaben auf Gewinnsteuern abgeschrieben werden können. Scholz' Angebot: "Wer in Deutschland investiert, spart bares Geld." Konkret: "Zehn Prozent der Anschaffungssumme gibt es als Steuererstattung vom Staat zurück, direkt und unkompliziert, und zwar unabhängig davon, ob in Digitalisierung oder klimafreundliche Technologien, in neue Produktionsstandorte oder neue Maschinen. Das wirkt sofort, das stärkt den Standort Deutschland und das schafft Arbeitsplätze."
Drittens will Scholz einen Deutschlandfonds mit einem Startkapital von 100 Milliarden Euro aufsetzen. "Gespeist wird er aus öffentlichen Mitteln und privatem Kapital", sagte Scholz. Das gehe auch ohne Reform oder Aussetzung der Schuldenbremse. Dieser Fonds könne sich an Unternehmen beteiligen, die in Deutschland investieren, etwa in den Stromnetzausbau oder in den Wohnungsbau. Das Geld solle die marode Infrastruktur sanieren helfen. Viertens werde die SPD die Zahl der Arbeitnehmer erhöhen, indem Frauen und junge Familien mit mehr Kita-Plätzen und Ganztagsgrundschulen auch Vollzeit arbeiten könnten. Zudem sollen mehr Fachkräfte ins Land kommen, während Merz eine "Rolle rückwärts" vollziehen wolle, "weil die Union nicht akzeptieren will, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland geworden ist."
Scholz ging abschließend noch einmal auf seine Ukraine-Politik ein. Der Vorwurf, er mache Wahlkampf mit seiner Zurückhaltung etwa in der Frage der Lieferung deutscher Marschflugkörper, sei falsch. "Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht darauf, zu erfahren, wo der Bundeskanzler steht - und zwar vor der Bundestagswahl", sagte Scholz. Auf der einen Seite gebe es die "Kreml-Lautsprecher", sagte Scholz mit Blick auf BSW und AfD. "Die wollen die Ukraine ihrem Schicksal überlassen nach dem Motto 'irgendwann wird da schon Grabesruhe herrschen'." Auf der anderen Seite gebe es "die Heißsporne, die die Augen verschließen vor der Gefahr, dass dieser Krieg auf ganz Europa, auf die ganze Welt übergreifen kann".
Merz als Unsicherheitsfaktor
Putins Atomdrohungen abzutun, tauge nicht als Richtschnur in der deutschen Sicherheitspolitik. "Niemand kann sagen, wie weit Putins Russland geht", sagte Scholz. Merz habe im Bundestag gesagt, "wenn Putin nicht tut, was Deutschland will, dann wird am folgenden Tag mit deutschen Marschflugkörpern nach Russland hineingeschossen". Der Unionsfraktionschef hatte tatsächlich im Oktober ein deutsches Ultimatum an Putin vorgeschlagen: Wenn dieser nicht den Beschuss ziviler Ziele in der Ukraine einstelle, werde die Bundesrepublik binnen 24 Stunden den deutschen Marschflugkörper Taurus an die Ukraine liefern. Scholz will den Taurus nicht eingesetzt wissen. "Mit der Sicherheit Deutschlands spielt man nicht russisch Roulette", sagte Scholz nun über Merz' Vorstoß. Die Menschen in Deutschland könnten sich darauf verlassen: "Ich bleibe standhaft und besonnen", sagte Scholz.
Am Ende der mehr als einstündigen Rede wurde der Kanzlerkandidat mit minutenlangem Applaus gedacht. Es war der geplante Höhepunkt zum Start der SPD in den Bundestagswahlkampf. Anschließend zogen sich die Teilnehmer für den Nachmittag zu Workshops zurück. Darin sollten Details des Bundestagswahlkampfes festgelegt und den einzelnen Wahlkreiskandidaten die Kampagnenstrategien vorgestellt werden. SPD-Generalsekretär Matthias Miersch hat unter anderem vor, einen intensiven Haustürwahlkampf zu führen.
Unklar ist, wie viele Sozialdemokraten sich mobilisieren lassen, an nasskalten Wintertagen für einen Kanzlerkandidaten mit katastrophalen persönlichen Zustimmungswerten von Haustür zu Haustür zu ziehen. Dabei kommt es auch auf die vielen jungen Parteimitglieder an, die bei den Jusos organisiert sind - und Scholz besonders skeptisch gegenüberstehen. Juso-Chef Philipp Türmer hatte die Jungsozialdemokraten aufgefordert, nicht wegen, sondern trotz des Kanzlerkandidaten Scholz Wahlkampf zu machen; für die Themen ihrer SPD.
Klingbeil kündigte zu Beginn der "Wahlsiegkonferenz" einen stark inhaltlich aufgeladenen Wahlkampf an und baute damit auch jenen eine Brücke in der Partei, die nicht vor Enthusiasmus für Olaf Scholz sprühen. Scholz füllte dieses Versprechen mit einer Rede, die viele linke Positionen der SPD ausdrücklich einbezog, sei es bei der Umverteilung oder dem Mindestlohn. Der Kanzler hat erkennbar in den Wahlkampfmodus geschaltet. Einen Funken mehr Begeisterung für den Kanzlerkandidaten könnte Scholz damit auch unter seinen größten Skeptikern versprüht haben.