1 month ago

30 Jahre nach Budapest-Abkommen: Atomwaffen für die Ukraine? "Geht um seriöse Sicherheitsgarantien"



Ein Bericht der britischen "Times" legt nahe, dass die Ukraine "schnell" Atomwaffen entwickeln kann. Die Realität ist aber offenbar eine andere - und entsprechende Überlegungen in Kiew sind eher taktischer Natur.

Fast exakt vor 30 Jahren wird in Budapest ein historisches Dokument unterschrieben. Am 5. Dezember 1994 stellen die USA, Großbritannien und Russland im Budapester Memorandum umfassende Sicherheitsgarantien für Kasachstan, Belarus und die Ukraine aus. Die drei Ex-Sowjetstaaten waren dafür zuvor dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten und hatten zugestimmt, alle Atomwaffen in ihren Ländern an Russland abzugeben. Zwei Jahre später sind schließlich alle Waffen abtransportiert.

Seitdem ist auch die Ukraine atomwaffenfrei. Das war unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion anders. Auf dem Staatsgebiet der nun unabhängigen Ukraine lagerten damals noch etliche sowjetische Atomwaffen. Tausende Nuklearsprengköpfe, 170 ballistische Interkontinentalraketen und Dutzende strategische Bomber für den Transport der Atomwaffen. Die Ukraine war gewissermaßen mit der Unabhängigkeitserklärung zur drittgrößten Atommacht der Welt geworden. Allerdings nur in der Theorie. Die Regierung in Kiew hätte auf das riesige Arsenal nur mit Zustimmung aus Moskau zugreifen können.

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Gerade deshalb war es für die Ukraine kaum schmerzhaft, dass sie die Atomwaffen zurückgeben musste - vor allem auch deshalb, weil ihr im Gegenzug vermeintliche Sicherheitsgarantien ausgesprochen wurden. Seit Kriegsbeginn in der Ostukraine und der illegalen Annexion der Krim im Jahr 2014 und spätestens seit der russischen Großinvasion im Februar 2022 ist jedoch klar: Die Sicherheitsgarantien von 1994 waren und sind nichts wert.

Atomwaffen in der Ukraine? Zwischen Scherz und Ernst

Und weil sich die Lage auf dem Schlachtfeld in den vergangenen Monaten für die Ukraine stetig verschlechtert hat, diskutiert das Land gerade über einen Weg raus aus der militärischen Misere. Offenbar ohne Denkverbote, denn das Centre for Army, Conversion and Disarmament Studies (CACDS), ein ukrainischer Thinktank, hat laut britischer Times im Auftrag des Verteidigungsministeriums ein Papier verfasst, in dem es um die Möglichkeit einer Wiederbewaffnung der Ukraine mit Nuklearwaffen geht.

"Es gibt viele Scherze und Memes darüber. Aber es wird natürlich auch ernsthaft darüber gesprochen. Wir können davon ausgehen, dass es solche Überlegungen in der Ukraine gab und gibt. Wie seriös und wie weit fortgeschritten diese Überlegungen sind, weiß ich natürlich nicht", sagt Denis Trubetskoy im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Der ukrainische Journalist hält die grundsätzlichen Überlegungen in alle Richtungen für logisch und nachvollziehbar, "weil die Ukraine in der jetzigen Situation nach Optionen schauen muss, wie man in Zukunft die eigene Sicherheit garantiert und gestaltet."

Das Thema Atomwaffen hatte auch schon Wolodymyr Selenskyj im Oktober am Rande des EU-Gipfels in Brüssel angesprochen. Die Ukraine müsse entweder Nuklearwaffen besitzen oder in einem Sicherheitsbündnis sein, sagte der ukrainische Präsident.

Das bedeute jedoch nicht, dass Kiew mit dem Bau von Atomwaffe beginne, stellte Selenskyj wenig später im ukrainischen Fernsehen klar. Die Ukraine wolle "weder eine Gefahr für die Welt schaffen, noch irgendwelche Kernwaffen besitzen". Er habe deutlich machen wollen, dass die NATO-Mitgliedschaft die einzige Alternative sei - weil die Ukraine eben vor 30 Jahren seine Nuklearwaffen abgegeben und - wie sich herausgestellt hat - im Gegenzug keine echten Sicherheitsgarantien bekommen hat.

"Der Krieg wäre vermutlich genauso gelaufen"

"Das Budapester Memorandum war eigentlich nur eine Erklärung, in der sich alle Seiten verpflichteten, im Falle eines Angriffs auf die Ukraine gemeinsame Konsultationen durchzuführen. Es gab keine seriösen Sicherheitsgarantien", analysiert Trubetskoy. Trotzdem ist der Journalist überzeugt, dass die Entscheidung, die Atomwaffen abzugeben, unter damaligen Umständen "alternativlos" war. Eine Debatte darüber, ob die Abgabe damals richtig oder falsch war, sei unnötig.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten Russland und die USA viel Druck auf Kiew ausgeübt, die Atomwaffen zurückzugeben. Russland hätte sich davon auch nicht abhalten lassen, die Ukraine anzugreifen. Und der Krieg wäre auch nicht anders verlaufen, ist Trubetskoy überzeugt. "Wenn Russland in einem solchen Szenario trotzdem die Ukraine angegriffen hätte, wäre der Krieg vermutlich genauso gelaufen. Das wäre ja ein Wahnsinn gewesen, hätte die Ukraine beispielsweise taktische Atomwaffen auf Russland abgeschickt, weil Russland ein viel größeres Arsenal hat."

Schneller Weg zur Bombe kaum denkbar

Der "Times"-Bericht suggeriert, dass die Ukraine eine "einfache" Atombombe "schnell" entwickeln könne. Kiew könne auf über sieben Tonnen Plutonium aus abgebrannten Brennstäben in den Atomkraftwerken des Landes zurückgreifen, heißt es. Daraus könnten "hunderte" taktische Nuklearsprengköpfe gebaut werden. Für Atombomben, die vergleichbar wären mit denen, die die USA 1945 über Japan abgeworfen haben.

Zumindest in der Theorie. In der Realität sei das Plutonium jedoch stark mit anderen strahlenden Materialien vermischt und in diesem Zustand nicht geeignet für den Bau einer Nuklearwaffe.

Um eine Atombombe zu bauen, wird entweder hoch angereichertes Uran-235 oder waffenfähiges Plutonium-239 benötigt. Letzteres wäre der einzig Denkbare, aber kein schneller Weg für die Ukraine zur Bombe - anders als der "Times"-Bericht nahelegt. Kiew müsste Atommüll aufwendig wiederaufbereiten - hat dazu Stand jetzt aber gar nicht die Möglichkeit. Selbst wenn die Ukraine eine Wiederaufbereitungsanlage baut, würde es "bestenfalls Jahre" dauern bis zur fertigen Atomwaffe, sagen mehrere Atomwaffenexperten dem "Spiegel".

Was ist das Motiv der Ukraine?

Denis Trubetskoy sagt, es gehe vermutlich nur darum, alle Möglichkeiten auszuloten - auch wenn sie noch so verrückt klingen. "Diese Diskussion darf weder überschätzt noch unterschätzt werden. Natürlich glaube auch ich nicht, dass die Ukraine ihre eigene Atombombe wirklich baut. Es wäre kein wirklicher Druckfaktor für Russland, zudem würde die Ukraine international schlecht aussehen."

Stattdessen geht es möglicherweise darum, die Position gegenüber den westlichen Verbündeten zu stärken. Den Atomwaffen-Bau andeuten, um bessere Chancen auf einen NATO-Beitritt zu haben? "Ich kann mir vorstellen, dass die Ukraine auf diese Karte setzt, um dem Westen zu sagen: entweder wir bekommen Sicherheitsgarantien, die seriös sind, oder wir setzen die Arbeit hinsichtlich des Baus einer Atomwaffe fort", sagt Trubetskoy im Podcast.

"Bei diesem Thema besser den Mund halten"

Wenn die Ukraine mit so einer tödlichen Waffe droht, besteht aber auch die Gefahr, dass die Ukraine in der öffentlichen Wahrnehmung im Westen einen Schritt zu weit geht. "Es gibt viele Versuche der Russen, die Ukrainer als wahnsinnig darzustellen und Aussagen von Selenskyj zu verdrehen. Diese Gefahr besteht natürlich auch in diesem Fall. Die Ukraine sollte das Thema deshalb absolut geheim halten", so Trubetskoy, der zudem auf den innenpolitischen Aspekt der Debatte verweist. "Weil die Menschen in der Ukraine diese Diskussion eher positiv wahrnehmen, können Politiker hier ein paar Sympathiepunkte holen. Aber es ist ein Thema, bei dem man besser den Mund halten sollte."

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Trubetskoy ist überzeugt, dass die Ukraine schon seit 2014 über Nuklearwaffen zur Abschreckung nachdenkt. Nach dem Bruch des Budapester Memorandums habe Kiew über alle Optionen nachgedacht, um in Sicherheit leben zu können. Und das gelte jetzt natürlich mehr denn je. "Die Schlüsselfrage, die die Menschen in der Ukraine hier und heute beschäftigt", sei folgende, so Trubetskoy im Podcast: "Welche Sicherheitsgarantien würde die Ukraine nach der Einstellung der aktuellen Kampfhandlungen bekommen können?" Der Vertrag von 1994 hat Russland bekanntlich nicht davon abgehalten, sein Nachbarland anzugreifen.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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