3 months ago

Reisners Blick auf die Front: "Bricht der Damm, droht Kiew eine Flutkatastrophe"



Verspätet antwortet Russland hart auf die ukrainische Offensive in Kursk: Mit massiven, brutalen Luftangriffen. Aber auch vor Ort setzt sich die russische Armee inzwischen erfolgreich zur Wehr. Hat die Ukraine Chancen, das eroberte Gebiet zu halten? Das erklärt Oberst Markus Reisner.

Seit Wochenbeginn attackiert die russische Armee die Ukraine verstärkt aus der Luft. Ist das die verspätete harte Antwort auf den ukrainischen Angriff auf russischem Boden?

Die Bombardierungen stellen in der Tat eine Antwort der Russen auf die Blamage der ukrainischen Kursk-Offensive dar. Nach den ukrainischen Erfolgen in Kursk war klar, dass Russland versuchen würde, den Blick im Informationsraum wieder von dort wegzuleiten. Dies sehen wir heute.

Wie folgenreich fällt diese Antwort nun aus?

Heute wurde ein wichtiger Staudamm nördlich der Hauptstadt Kiew bombardiert. Bricht der Damm, droht Kiew eine Flutkatastrophe. Russland setzt hier mitleidlos seine strategische Luftkampagne gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine fort. Alle zwei bis drei Wochen führt ein massiver russischer Luftangriff zu weiteren Zerstörungen. Hinzu kommen die massiven Schäden des heutigen Angriffs. Wir dürfen uns nicht von Ereignissen wie der Kursk-Offensive täuschen lassen.

Inwiefern?

Trotz der Zusagen bei der letzten NATO-Konferenz sind viele Staaten mit der Lieferung weiterer Luftabwehrsysteme an die Ukraine noch säumig. Das rächt sich jetzt. Vor kurzem präsentierte General Oleksandr Syrskyj, der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, aktuelle Zahlen dazu. Daraus ging hervor, dass von Februar 2022 bis zum Juli 2024 von den auf die Ukraine abgefeuerten etwa 9630 russischen Marschflugkörpern und Raketen nur rund 2430 abgeschossen wurden. Also knapp 25 Prozent. Das erklärt die massiven Zerstörungen. Ich weise auf diese strategische und somit für die Ukraine existentielle Bedrohung seit Monaten hin.

Das US-Institut Institute for the Study of War (ISW) analysiert, die russische Armee verlege Truppen aus dem Gebiet nahe Saporischschja nach Kursk gegen die ukrainische Offensive. Kräfte, die im Donbass für die Einnahme von Pokrowsk benötigt werden, bleiben aber dort. Ist das eine militärisch kluge Entscheidung?

Russland verlegt operative Reserven in den Raum Kursk, ohne jedoch seinen Ansatz im Donbass zu schwächen. Denn die Inbesitznahme von Pokrowsk im Donbass ist Ziel der russischen Sommeroffensive. Man muss sich nur die Gliederung der russischen Kräfte entlang der Donbass-Front ansehen: Dort sind insgesamt sechs operative Manövergruppen im Einsatz. Hinzu kommen weitere Gruppierungen bei Charkiw und Kursk. Im Schwergewicht im Donbass sind auf knapp 300 Kilometern Breite die drei Gruppierungen „Centr“, „Yug“ und „Vostok“ im Angriff. Mit diesen Kräften wollen die Russen einen Durchbruch durch die zweite Verteidigungslinie schaffen und, wenn möglich, einen operativen Durchbruch bei Pokrowsk. Saporischschja ist ein untergeordneter Abschnitt, der jedoch möglicherweise von der Ukraine für einen zusätzlichen Ansatz genützt wird, um den Druck im Donbass zu verringern.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine. Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Ein Ziel der Ukrainer beim Angriff auf Kursk war vermutlich, andere Frontabschnitte dadurch zu entlasten. Wenn aber die Russen im Donbass ihre Truppenstärke beibehalten, erreichen die Ukrainer dieses Ziel überhaupt?

Die Russen marschieren bei Pokrowsk weiter vor. Dort ist eine durch etwaige Verlegung entstandene Schwächung des russischen Momentums nicht erkennbar. General Syrskyj hat vor wenigen Wochen noch davor gewarnt, dass bis zum Endes Jahres bis zu 690.000 russische Soldaten verfügbar sein werden. Diese Herausforderung ist unverändert. Russland reagiert zwar für unser Gefühl langsam aber doch nachhaltig.

Wie genau setzen sich die Russen bei Kursk zur Wehr?

Russische Reserven sind im Einsatz und haben die Vorstöße der Ukraine bereits nach Norden und Osten begrenzt. Der Angriffsschwung der Ukraine hat dort daher im Moment merklich nachgelassen. Den russischen Streitkräften ist es zudem gelungen, einen weiteren massiven Vorstoß ukrainischer Kräfte in den Norden in Richtung Kursk und in den Osten zu verhindern. Die Ukraine versucht, den Einbruchsraum nun in Richtung Westen auszuweiten. Mit einem Schutz der nördlichen Flanke durch den Fluss Sejm und mit dem Ziel, ukrainisches Territorium bei Tjotkino zurückzugewinnen.

In seiner letzten Ansprache hat Selenskyj noch die Einnahme zweier weiterer Orte in Kursk gemeldet. Wenn aber die Gegenwehr so stark ist: War es das dann für’s erste mit den ukrainischen Vorstößen?

Nach dem Erreichen der kurzfristigen Ziele ist es nun wichtig, die mittel- und langfristigen Absichten abzusichern. Der Überraschungseffekt des Kursker Angriffs ist vorbei und die ukrainische Armee versucht zwar noch, dort vorzustoßen, wo es möglich ist. Vor allem aber muss sie sich auf Gegenangriffe vorbereiten. Dabei versucht sie, günstige Geländeabschnitte wie zum Beispiel Flüsse zu gewinnen. Ebenso trifft sie Vorbereitungen für eine defensive Einsatzführung. Es gilt nun, das gewonnene Gelände so lange wie möglich zu halten. Flanken müssen gesichert, Gelände muss verstärkt werden. Einen positiven Nutzen hat die Offensive erst, wenn es gelingt, das Gelände nachhaltig zu halten und daraus resultierend große Mengen russischer Truppen zu binden.

Sind die Ukrainer denn kräftig genug? Haben sie die Chance, die Gebiete dauerhaft zu halten?

Die größte Herausforderung für die Ukrainer dort ist die Luftüberlegenheit der Russen. Gerade jetzt wäre der Moment, wo man von ukrainischer Seite F-16-Kampfjets einsetzen könnte, um die Luftüberlegenheit zumindest lokal begrenzt im Raum Kursk zu gewinnen. Die Ukraine setzt westliche Boden-Boden-Waffen ein, um die russische Flugabwehr auszuschalten, doch trotz dieses Einsatzes ist die russische Luftverteidigung immer noch stark. Daher könnten F-16-Flieger vermutlich nur bis maximal 40 Kilometer an die Front herangeführt werden.

Wären sie trotz dieses Abstands effektiv einsetzbar?

Ja, denn moderne Luft-Luft-Waffen können bis zu 120 Kilometer weit wirken. Die F-16 müsste also nicht bis unmittelbar an die Front heranfliegen, um beispielsweise eine der gegnerischen Su-34-Malschinen zu bekämpfen, welche aus sicherer Distanz Gleitbomben abwerfen. Wenn die Ukraine sich aber nun in Kursk ohne den Schutz durch die F-16 oder durch mitgeführte Flugabwehr einrichtet, dann kann die russische Armee relativ bequem das Gebiet aufklären, Ziele identifizieren und aus sicherer Distanz mit Gleitbomben ein Ziel nach dem anderen zerstören. So, wie sie es derzeit auch durchführt. Dieses Vorgehen ist täglich in russischen sozialen Netzwerken zu sehen.

Kiews Armee setzt die F-16 also nicht ein, obwohl sie die Offensive schützen könnten? Welche Gründe könnte Syrskyj dafür haben?

Mehrere Motive sind möglich: Eventuell fehlt es schlicht an Munition für die Jets, oder es gibt noch Herausforderungen bei der Logistik bzw. Stationierung. Und die F-16 sind ungeheuer kostbar – militärisch, aber auch für die Moral. Würde der erste F-16-Flieger brennend vom Himmel fallen, dann spräche niemand mehr von der Offensive in Kursk. Das muss die Ukraine unbedingt vermeiden. Das wären zwei mögliche Gründe für den Verzicht, aber ich spekuliere hier.

Kann der Angriff auf Kursk dann militärisch überhaupt spürbar von Nutzen sein? Oder ist das vor allem ein Angriff im Informationskrieg, um - nicht zuletzt auch uns - zu zeigen: Die Ukraine kann noch immer Überraschung. Die Ukraine ist offensivfähig. Der Krieg ist noch nicht entschieden?

Im Optimalfall würde das Momentum der russischen Sommeroffensive durch ein Abziehen von Kräften tatsächlich zum Erliegen gebracht. Diesen „Köder“ haben die russischen Streitkräfte aber noch nicht geschluckt. Der Angriff der Ukraine bei Kursk ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit erst der Auftakt einer Reihe von militärischen Maßnahmen, um dieses Momentum tatsächlich zu brechen.

Wenn die Ukrainer Russlands Offensive zum Stillstand brächten, wäre das spektakulär, oder?

Die Ukraine versucht hier einen Befreiungsschlag. Sie möchte die Initiative wieder für sich gewinnen. Die Alternative wäre, sich weiter dem Diktat eines russischen Abnützungskrieges im Donbass zu unterwerfen. Diesen Teufelskreis will die Ukraine unbedingt durchbrechen.

Im Netz kursiert Videomaterial von einem ukrainischen Transporthubschrauber, von dem aus russische Drohnen beschossen werden. Sind solche überraschenden “Kreativ”-Lösungen auch militärisch von Belang? Oder vor allem dazu gemacht, die Ukraine kühn und angriffslustig darzustellen?

Es ist der Versuch, aus der Not eine Tugend zu machen und vor allem, mit einfachen und billigen Mitteln maximale Ergebnisse zu erzielen. Es ist aber durchaus wirkungsvoll. Der Abschuss einer billigen russischen „Geran-2“-Kamikazedrohne mit einer hochmodernen deutschen IRIS-T-Rakete wäre hingegen um ein Vielfaches teurer.

Auf belarussischem Gebiet nahe der Grenze zur Ukraine werden Truppen zusammengezogen. Würde von dort aus ein Angriff erfolgen, wie sehr würde das die Ukraine belasten?

Der Kreml übt Druck auf Belarus aus und Lukaschenko agiert im Sinne Russlands. Die Aktivitäten an der ukrainischen Grenze erinnern die Ukraine daran, dass auch von diesem Nachbarn Gefahr drohen kann. Die belarussischen Streitkräfte haben begonnen, mechanisierte Einheiten aus dem Südraum von Belarus an die Grenze zu verlegen. Die Ukraine kann dies nicht einfach ignorieren, sie muss somit zehntausende Soldaten an der belarussischen Grenze vorhalten. Allerdings kommt es der Ukraine entgegen, dass der Grenzraum von weitläufigen Sumpflandschaften geprägt ist. Die sogenannten Prypjatsümpfe stellen ein massives Hindernis dar. Ein etwaiger Vorstoß müsste zwangsläufig über diesen Raum erfolgen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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