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Putin im Krieg bald am Ziel?: So tief reichen die russischen Vorstöße in der Ukraine



Im Südosten der Ukraine geraten die Frontlinien in Bewegung: Das russische Militär dringt binnen weniger Wochen tiefer in das ukrainische Hinterland vor. Schon jetzt stehen Teile der von Moskau annektierten Regionen unter russischer Kontrolle. Wird die russische Kriegsmaschine an den Oblast-Grenzen anhalten?

Russland schafft in der Ukraine Tatsachen: Zu Beginn des dritten Kriegswinters zeigen die unablässigen Angriffe zunehmend Wirkung. Die Logik der russischen Abnutzungsstrategie geht offenbar auf, die ukrainischen Verteidiger müssen an verschiedenen Stellen entlang der rund 1000 Kilometer langen Frontlinie zurückweichen.

An der Front im Südosten reiht sich ein Brennpunkt an den anderen: Vor Pokrowsk, in Toretsk und bei Tschassiw Jar können die Ukrainer derzeit nur noch mit Mühe der russischen Übermacht standhalten. Weiter südlich im Frontvorsprung bei Kurachowe müssen sich die Ukrainer nach und nach zurückziehen. Im Nordosten bei Kupjansk dringen die Russen an mehreren Stellen vor. Eine Ortschaft nach der anderen fällt im Bombenhagel durch verlustreiche Sturmangriffe in russische Hand. Die Befehlshaber der Kreml-Truppen können nach langem Stillstand vorzeigbare Erfolge nach Moskau melden.

Mit den jüngsten Geländegewinnen kommt die russische Kriegsplanung einem großen Ziel näher: Weite Teile der von Russland beanspruchten vier ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson befinden sich bereits unter russischer Kontrolle.

Für die russischen Befehlshaber sind die ukrainischen Verwaltungsgrenzen von großer Bedeutung: Auf der Karte markieren sie die Ausdehnung jener Gebiete, die Russlands Machthaber Wladimir Putin im September 2022 voreilig und völkerrechtswidrig zu russischem Staatsgebiet erklärte.

Für die Ukrainer sieht die Kriegslage zunehmend düsterer aus: An der Front am Fluss Oskil östlich von Charkiw zum Beispiel können die Ukrainer derzeit nur noch wenige Quadratkilometer der Region Luhansk verteidigen. Bei Swatowe stehen die Russen nur noch ein paar einzelne Waldstreifen und Ackerflächen von der alten Oblast-Grenze entfernt. Bei Kupjansk haben die russischen Truppen diese Linie längst überschritten.

Gekämpft wird an der Oskil-Front bereits um den vollständigen Besitz des östlichen Ufers. Weiter südlich stemmen sich ukrainische Verteidiger zwischen Lyman und Kreminna noch mit aller Kraft gegen die russischen Vorstöße. Im sandigen Wald von Serebrjanskyj und im benachbarten Bilohoriwka scheiterten bislang alle Versuche der Russen, die letzten verbliebenen Quadratkilometer der Region Luhansk zu besetzen.

Seit der illegalen Annexion der vier ukrainischen Regionen kämpfen und sterben russische Soldaten auch dafür, Putins territoriale Ansprüche in der Ukraine Wirklichkeit werden zu lassen. "Die Bewohner von Luhansk und Donezk, Cherson und Saporischschja werden für immer unsere Bürger", verkündete der Kremlchef damals in einer viel beachteten Rede.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich allerdings nur Bruchteile der beanspruchten Gebiete tatsächlich unter russischer Kontrolle. Westlichen Beobachtern zufolge sollte das nachträglich ausgerufene Kriegsziel - die Einverleibung weiter Landstriche im Süden und Osten der Ukraine - vor allem vom russischen Debakel der ersten Kriegsphase ablenken.

Im russischen Fernsehen sieht die Landkarte bereits komplett verändert aus. Dort werden die ukrainischen Oblaste schon fest dem russischen Einflussbereich zugeordnet. Die neue, fiktive Grenze zwischen Russland und der freien Ukraine verläuft in der staatlich gelenkten Propaganda bereits fast hundert Kilometer weiter westlich.

Der formale Anspruch auf die vier ukrainische Verwaltungsbezirke steht dabei bislang nur auf dem Papier, strategische Bedeutung oder praktischer Nutzen ist in dieser Festlegung nicht zu erkennen. Die Grenze zwischen den Regionen Luhansk und Charkiw zum Beispiel folgt alten Gebietsfestlegungen, die ohne Rücksicht auf natürliche Hindernisse Hügel, Flussläufe und Stauseen überspringt.

Aus militärischer Sicht wirken Putins Ansprüche sogar nahezu aussichtslos: Teile der Region Cherson zum Beispiel liegen am westlichen Ufer des Dnipro. Der mächtige Unterlauf des Stroms bildet eine Barriere, die selbst Armeen in voller Kampfkraft nur unter günstigsten Bedingungen überqueren können.

Russlands Chaos-Rückzug aus Cherson

Wie schwer es ist, sich auf der gegenüberliegenden Seite zu behaupten, haben russische Soldaten im Herbst 2022 am eigenen Leib erleben müssen: Unter dem Druck wütender ukrainischer Gegenangriffe musste sich die russische Armee in höchster Not über den Dnipro zurückziehen. Um die gesamte Region Cherson inklusive aller Einwohner Putins russischer Herrschaft zu unterwerfen, müssten die Russen den breiten Strom erneut überqueren oder an anderer Stelle eine höchste riskante amphibische Angriffsoperation starten.

Eine vollständige Einnahme der Region Luhansk erscheint dagegen mittlerweile sehr viel wahrscheinlicher. Hier, an der Grenze zu Russland, üben russische Truppen teils schon seit 2014 die Kontrolle über Städte und Landstriche aus. Die jüngsten Geländegewinne südlich von Pokrowsk wecken auf russischer Seite Hoffnungen, womöglich bald schon die viel diskutierte dritte Verteidigungslinie der Ukraine zu durchbrechen - oder gar südlich zu umgehen.

In diesem Fall könnten Putins Generäle womöglich irgendwann auch die Einnahme der Region Luhansk nach Moskau melden - und vielleicht auch die Einnahme der Region Donezk. Die vollständige Eroberung der Regionen Cherson und Saporischschja liegt dagegen bisher - zumindest in seinem westlichsten Teil - außerhalb der russischen Zugriffsmöglichkeiten.

An der Südfront zwischen Kachowka-Becken im Westen und Pokrowsk im Osten stehen sich Russen und Ukrainer schon seit mehr als zwei Jahren in einem weitgehend erstarrten Stellungssystem gegenüber. Dahinter befindet sich die Gebietshauptstadt Saporischschja und der auch hier unüberwindliche Dnipro-Strom.

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Würde der Krieg enden, wenn es Putins Russland gelänge, die vier beanspruchten Regionen komplett zu besetzen? Dafür spricht nicht viel, das Gegenteil scheint wahrscheinlicher - schließlich zielte die "militärische Spezialoperation", wie Russland den Krieg offiziell noch immer bezeichnet, von Beginn an auf die Vernichtung einer freien, prosperierenden Ukraine.

Klar erkennbar ist, dass Russland derzeit auch mit Blick auf den anstehenden Wechsel in den USA darum ringt, in der Ukraine möglichst schnell möglichst weitreichende Fakten zu schaffen. So oder so steht die russische Seite unter wachsendem Zeitdruck. Westliche Beobachter sind sich sicher: Lange kann die Invasionsarmee - und die russische Wirtschaft - den von Putin befohlenen Kriegskurs in der aktuellen Intensität nicht mehr durchhalten.

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