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Meinung: "Dann wenden sich mehr Menschen bloß noch angewidert ab"



Politik braucht mehr als Vernunft. Wer nach der Bundestagswahl Vertrauen zurückgewinnen will, muss Emotionen wecken und Zuversicht vermitteln, findet unser Gastautor, SPD-Politiker Carsten Brosda.

Schon kurz nach der Bundestagswahl ging es in vielen Analysen wieder um die allfälligen Fragen: Wer kann mit wem? Und warum ist bald alles am Ende? Zwischen den ganz konkreten und den ganz grundsätzlichen Lehren aber liegt das weite Feld der politischen Kultur unseres Landes. Obwohl es entscheidend ist für die praktische Zukunft unserer Demokratie, verlieren wir es allzu oft aus den Augen. Das muss sich ändern, wenn demokratische Politik wieder Vertrauen gewinnen soll. Einige Lehren der letzten Monate liegen jetzt schon klar auf der Hand.

Wenn politische Emotionen die Öffentlichkeit fluten, ist Vernunft dringend geboten, reicht aber letztlich nicht aus. Wer allein auf der Vernunft beharrt, übersieht, dass das auch eine emotionale Entscheidung ist. Gegen Ängste vor der Zukunft richten Statistiken der Gegenwart allein nur wenig aus. Natürlich darf Politik nicht gefühlig werden, aber wer auf Vernunft setzt, der muss das leidenschaftlich tun. Wer nüchtern an den Fakten ansetzen will, der braucht dafür ein Pathos, das diese Nüchternheit zu etwas Besonderem macht. Eine Demokratie lebt davon, dass es nicht nur gelingt, die Gefühle zu rationalisieren, sondern zugleich muss auch die Vernunft emotionalisiert werden.

Das öffentliche Gespräch ist auf diesen Spagat unerlässlich angewiesen. Hier liegt der erste Zugang zum Politischen. Wie wir als Gesellschaft über die Angelegenheiten von öffentlichem Belang sprechen, ist entscheidend dafür, welche Lösungskompetenz der demokratischen Politik noch zugeschrieben wird. Im zurückliegenden Wahlkampf schien es oft so, als steckten wir in einem Wettbewerb um eine möglichst zugespitzte Beschreibung des gesellschaftlichen Untergangs. Das mag den Regeln der medialen Aufmerksamkeitsökonomie entsprechen, aber es geht an den Erwartungen einer demokratischen Öffentlichkeit dramatisch vorbei. Wenn die Öffentlichkeit, gerade auch im Digitalen, bloß noch mit Unsinn geflutet wird, wenden sich zunehmend mehr Menschen bloß noch angewidert ab. Wenn einzelne Themen alles andere verdrängen, drohen wir zudem Wesentliches ganz zu verpassen.

Die Lust auf Zukunft

Die politische Debatte braucht dringend eine Orientierung weg von den Defiziten der Gegenwart und hin zu den Chancen möglicher Zukünfte – in der langfristigen Perspektive ebenso wie in der konkret anstehenden Umsetzung. Natürlich geht es zunächst darum, die Lage zu analysieren. Aber ohne mögliche Alternativen dazu ist das alles nichts wert, weil es dann lediglich den täglichen Frust multipliziert.

Nichts fehlt unserer Gesellschaft derzeit so sehr wie das Gefühl, dass es auch besser sein oder werden könne. Kaum etwas wirkt entrückter als die Fähigkeit, mit konkreten Entscheidungen etwas zu verändern. Dabei ist es doch genau das, was Politik ausmacht und wofür demokratische Parteien eintreten können: dass Politik wirkt und dass sie aufzeigt, wohin die Reise gehen kann. Stattdessen liefern soziologische Analysen der Anpassung an die Realitäten oder der kleinen Schritte die Begleitmusik zur aktuellen Verzagtheit. Sie mögen damit das Notwendige aufzeigen, aber sie allein werden nicht hinreichend sein für neuen demokratischen Schwung.

Es ist Zeit für neue politische Visionen, für Lust auf Zukunft. Wenn die Probleme so groß und überwältigend scheinen wie im Moment, dann müssen die Antworten dem ebenbürtig sein. Das gilt hinsichtlich Europa und einer neuen Friedens- und Sicherheitsordnung ebenso wie mit Blick auf Herausforderungen wie Klimawandel und Migration, Digitalisierung, soziale Sicherung und Wohlstandsbewahrung.

Die Ampelregierung ist auch daran zerbrochen, dass ihre politischen Konzepte nach langen Reibereien immer nur wie der kleinstmögliche Kompromiss wirkten. Und selbst der wurde oft genug sofort wieder aufgeschnürt. Das ist von den Bürgerinnen und Bürgern für zu wenig befunden worden. Natürlich wird auch eine neue Bundesregierung Kompromisse eingehen müssen. Anders entstehen in einer Demokratie keine Mehrheiten. Aber diese Kompromisse müssen dann auch verlässlich sein. Und sie brauchen spürbare und nachvollziehbare Ambition.

Demokratie verteidigt man nicht mit schlechter Laune

Wenn die Welt voll ist von Dystopien, dann wäre die tatsächliche Disruption vermutlich eine neuerliche Utopie. Damit diese gedacht werden kann, braucht es Zuversicht. Das ist der wichtigste Aspekt, wenn es um die Kultur des Demokratischen geht. Demokratie verteidigt man nicht mit schlechter Laune. Sie lebt von der Überzeugung, dass es besser gehen kann, und von der Lust darauf, mitzumachen und die Dinge zu gestalten. Es geht nicht um blinden Optimismus, sondern darum, zu erkennen, dass unsere aktuellen Probleme die Folge menschlicher Entscheidungen sind und sie deshalb auch durch andere Entscheidungen angegangen werden können. Wir müssen das nur wollen.

Deshalb ist so wichtig, zentrale Begriffe und Konzepte unseres Miteinanders nicht aufzugeben, sondern um sie zu kämpfen. Unsere Gesellschaft erlebt derzeit einen Frontalangriff auf das Tafelsilber ihrer demokratischen Kultur. Nur wenn die Freundinnen und Freunde der Demokratie hier frontal dagegenhalten, werden wir die Versprechen der Demokratie auch einlösen können. Diese beruhen auf fundamentalen Prämissen:

Freiheit ist mehr als das Recht des Stärkeren, ohne Konsequenzen alles sagen und tun zu können. Sie beruht auf der gemeinsamen Vereinbarung darüber, allen ihre Freiheit zu ermöglichen.

Gerechtigkeit bedeutet mehr als die Befriedigung individueller Bedürfnisse. Sie verlangt nach Ausgleich und nach zwischenmenschlichem Respekt, nach einer Sicherung von Teilhabe und nach der Bereitschaft, Wohlstand so zu teilen, dass alle etwas davon haben.

Solidarität wiederum ist heute nichts mehr, was nur denen zusteht, die so sind wie man selbst. Solidarität muss in einer diversen Gesellschaft zwischen den Vielen und den Verschiedenen gelebt werden, damit Zusammenhalt möglich ist.

Demokratie schließlich ist nicht nur der Wille der Mehrheit, sondern zugleich auch der Schutz der Minderheit und die Anerkenntnis, dass sich die Verhältnisse ändern können und diese Veränderung kein Schaden sein muss.

Mehrheiten sind in einer Demokratie nichts, was sich bloß einmal auszählen ließe. Mehrheiten entstehen im gesellschaftlichen Streit zwischen unterschiedlichen Positionen. Und wer keine Mehrheit für seine Position hat, aber sich im Besitz der besseren Argumente wähnt, ist gut beraten, diese Argumente in die Öffentlichkeit zu bringen. Wo die Mehrheit einer Gesellschaft steht, wo ihre Mitte liegt – das steht niemals fest, sondern entscheidet sich beinahe jeden Tag neu. Das ist anstrengend. Aber das macht auch die Schönheit der Demokratie aus.

Politik muss wieder zuversichtlich werden

Zu fassen sind diese Vorstellungen oftmals in den kulturellen Erzeugnissen einer Gesellschaft. In ihnen zeigt sich, wie nahe wir uns in vielen Aspekten auch jetzt sind, wo doch alle von Spaltung und Gefahr reden. Antonio Gramsci würde eine kulturelle Hegemonie, also eine in seinen Worten "weitverbreitete feste Überzeugung" sozialer und demokratischer Vorstellungen von Gesellschaft vermutlich auch heute noch für außerordentlich greifbar halten. Aber wir müssen sie als Bürgerinnen und Bürger auch erkennen und nutzen. Ganz gleich ob im Freiheitspathos moderner Popsongs, in filmischen Meditationen über Gesellschaften nahe am Naturzustand oder in den Solidaritätsbeschwörungen auf Theaterbühnen – stets finden sich Bruchstücke, Deutungsangebote, unvollständige Überlegungen, rohe Emotionen, die sich zu einer Vorstellung eines besseren Zusammenlebens zusammenfügen lassen.

Es sind diese Aspekte, die die Kultur einer Demokratie prägen, die aktuell verteidigt werden müssen. Gegen die schlechte Laune der Gegenwart, die gezielt von den Anhängern autokratischer Politik im In- und Ausland geschürt wird. Gegen die Machtfantasien des Tech-Libertarismus, der über die digitalen Plattformen unsere politische Kultur zu kolonisieren droht. Und gegen die Fantasielosigkeit derjenigen, die sich in unserer Gesellschaft immer noch in der Mehrheit wähnen und deshalb zurück in eine vermeintlich homogene Vergangenheit wollen.

Die nächste Bundesregierung, ja der ganze politische Betrieb unseres Landes – in allen Kabinetten, Parlamenten und Stadträten – ist aktuell gefordert, wieder Lust auf Demokratie zu leben. Sich respektvoll zu streiten, Differenzen zu markieren, Kompromisse zu finden und Dissense in die Öffentlichkeit zu tragen. Nur eine streitende Gesellschaft ist eine lebendige Gesellschaft. Nur eine respektvolle und einigungsfähige Gesellschaft ist eine zukunftsfähige Gesellschaft.

Über diese kulturellen Aspekte wird Politik künftig reden müssen, wenn sie sie öffentlich nachvollziehbar und damit demokratisch relevant machen will. Nüchtern pathetisch. Leidenschaftlich vernünftig. Kultiviert streitbar und lustvoll kompromissbereit. Zuversichtlich.

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