Deutschen Krankenhäusern fehlen Ärzte und Pfleger, die Zahl der Fehler ist hoch. Mit einer Reform will Karl Lauterbach die Behandlungsqualität verbessern. Kann das gelingen?
Wenn Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach seine geplante Krankenhausreform vorstellt, dann macht er viele Versprechen. Der SPD-Politiker sagt Sätze wie: "Bei der Behandlungsqualität mache ich keine Kompromisse." Und: "Der wirtschaftliche Anreiz soll nicht mehr bestimmen, wie gut die Patienten behandelt werden."
Im Mai 2024 hat das Bundeskabinett die Pläne für seine Reform gebilligt, im Juni wurde sie ein erstes Mal im Bundestag debattiert, Anfang 2025 soll sie in Kraft treten. Lauterbach spricht von der größten Neuordnung des Krankenhauswesens seit über 20 Jahren. Ihr zugrunde liegt die Feststellung: Die Behandlungsqualität in Deutschlands Kliniken ist nicht gut genug. Und: Es gibt zu viele Krankenhäuser, die zu viel Personal binden, das anderswo fehlt. Lauterbach will die Zahl der Kliniken verringern. Krankenhäuser sollen zudem künftig spezialisierter und finanziell besser aufgestellt sein. So verbessere sich auch die Qualität der Behandlung, sagt Lauterbach. Die Reform soll 50 Milliarden Euro kosten.
17.000 Tote jährlich durch vermeidbare Fehler
Eine Reform ist dringend notwendig. Obwohl Deutschland so viel Geld in die Gesundheitsversorgung investiert wie kaum ein anderes Land, sind die Menschen hierzulande nicht gesünder – im Gegenteil. Bei der Lebenserwartung zählt Deutschland im westeuropäischen Vergleich zu den Schlusslichtern, die Menschen sterben fast zwei Jahre früher als der Durchschnitt. Auch erkranken hierzulande mehr Menschen an einer lebensbedrohlichen Blutvergiftung als in anderen Ländern, die Sepsis-Stiftung spricht von 140.000 Todesfällen pro Jahr allein in Krankenhäusern. Und die Qualität der Behandlung in deutschen Krankenhäusern leidet. Ein Reporterteam von stern und RTL hat rund ein Dreivierteljahr recherchiert und exemplarisch schwere Missstände in Deutschlands größter Universitätsklinik, der Berliner Charité, aufgedeckt, die seitens des Klinikums bestritten werden.
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Doch das Problem ist größer als die Charité. Matthias Schrappe, jahrelang Berater der Bundesregierung, hat für stern und RTL exklusiv berechnet, dass etwa 17.000 Patienten jedes Jahr an Fehlern bei der Behandlung oder mangelnder Sorgfaltspflicht durch das Krankenhauspersonal sterben. Was läuft also schief an deutschen Krankenhäusern? Und kann Lauterbachs Reform Patienten künftig vor Behandlungsfehlern retten?
Spricht man mit Vertretern von Krankenkassen und Patientenverbänden, mit Krankenhausmanagern und Gesundheitsexperten, fällt bei allen das gleiche Schlagwort: Fallpauschalen. Die sogenannten Fallpauschalen seien für die schlechte Patientenversorgung in vielen Krankenhäusern verantwortlich, auch für die große Zahl an Behandlungsfehlern.
Das 2004 eingeführte Fallpauschalensystem bestimmt, wie die Krankenhäuser die Behandlung von Patienten abrechnen dürfen. Während die Kliniken zuvor dafür bezahlt wurden, wie lange Patienten bei ihnen verweilten, richtet sich heute ihr Erlös danach, wie viele Patienten sie behandeln. Dabei sind manche Krankheiten lukrativer als andere. Eine Blinddarm-OP kostet etwa 1900 Euro pro Patient, eine Knieprothese gut 3000 Euro, eine Lebertransplantation rund 20.000 Euro.
Fallpauschalen setzen Fehlanreize
In der Praxis bedeutet das: Damit Krankenhäuser wirtschaftlich arbeiten können, müssen die Klinikärzte möglichst viele Patienten in möglichst kurzer Zeit behandeln und sie schnell wieder entlassen. "Heute wissen die Patienten oft nicht mehr, wie ihr Arzt heißt. Ärzte müssen ihre Patienten so schnell abfertigen, dass sie keine Zeit mehr haben, sich vorzustellen", sagt der Patientensicherheitsexperte Schrappe. Dennoch schreiben viele Krankenhäuser rote Zahlen, auch die großen. Deutschlands berühmtestes Krankenhaus, die Charité, meldete 2023 einen Verlust von 134,6 Millionen Euro, so viel wie nie zuvor. "Wir müssen sparen", kündigte deswegen der Vorstandsvorsitzende Heyo Kroemer in einer Videobotschaft an die Belegschaft an und meinte damit wohl: weniger Personal, mehr Fälle.
Auf die Folgen dieses Systems machen Ärzte und Pfleger immer wieder aufmerksam, bereits mehrmals haben sie in diesem Jahr bei Warnstreiks die Arbeit niedergelegt. Sie sagen, dass sie an einer Belastungsgrenze arbeiten, die für sie und ihre Patienten gefährlich sei. Viele von ihnen erzählen von ihrer Angst, aus Müdigkeit Fehler zu machen und damit Menschenleben zu gefährden.
So soll die Reform von Karl Lauterbach wirken
Auch der Bundesgesundheitsminister sieht offenbar diese Gefahr. Er sagt: "Die Ökonomie ist zu weit gegangen. Wir müssen uns zurückbesinnen auf die medizinische Bedürftigkeit der Patienten und die Qualität der Versorgung in den Vordergrund rücken." Genau das solle seine Reform verbessern.
Erstens: Die Fallpauschalen verlieren an Bedeutung
Sie soll drei Schwerpunkte haben. Erstens sollen Krankenhäuser nur noch 40 Prozent ihrer Einnahmen über die Fallpauschalen selbst erwirtschaften müssen, die restlichen 60 Prozent sollen künftig aus sogenannten Vorhaltepauschalen kommen. Das bedeutet, Krankenhäuser werden fortan auch für die Leistungen bezahlt, die sie anbieten, ganz unabhängig davon, wie viele Patienten sie tatsächlich behandeln. Geld gibt es schon allein dafür, dass sie das Personal und die Gerätschaften für bestimmte Behandlungen zur Verfügung stellen.
Zweitens: Mehr Geld für Unikliniken
Zweitens sollen nicht mehr alle Kliniken alles machen. Die Krankenhäuser sollen sich auf die Behandlungen spezialisieren, die sie besonders gut können, bei denen das Personal viel Routine hat und für die die Klinik auch die nötige technische Ausrüstung besitzt. Lauterbach will große Spezialkliniken und Kliniken der Spitzenmedizin stärken. Das sind vor allem Unikliniken, denen Lauterbach mehr Geld zahlen will. Dafür sollen sie künftig in erster Linie Patienten mit komplexen und schwerwiegenden Krankheiten behandeln: Das wäre etwa der krebskranke Patient, der auch noch schlechte Nieren hat; das Kind mit dem komplizierten Knochentumor oder der Parkinsonkranke, dem mit einer Hirnoperation geholfen werden kann.
Gleichzeitig will Lauterbach die Anzahl der kleinen, wenig spezialisierten Krankenhäuser verringern. Einige davon sollen schließen. Deutschland könne sich keine 1700 Krankenhäuser leisten, sagt der SPD-Minister stern und RTL. "Dafür haben wir nicht genug Ärzte und Ärztinnen. Die Qualität ist da nicht gut genug." Besonders in Städten gebe es zu viele Kliniken. Manche Krankenhäuser will Lauterbach in ambulante Zentren umwandeln. Oder aber, sie sollen sich auf einfache Fälle und kleine Notfälle konzentrieren, zum Beispiel Patienten mit der Blinddarmentzündung oder einem einfachen Beinbruch.
Drittens: Bundesländer entscheiden über Spezialisierung
Drittens: In welchen Krankenhäusern Patienten künftig beispielsweise mit Herzproblemen, Diabetes oder einer schweren Infektion behandelt werden, sollen Behörden der Bundesländer bestimmen. Sie sollen den Krankenhäusern bestimmte Fachgebiete zuteilen, etwa Notfallmedizin, innere Medizin oder Infektiologie. Entscheidend für die künftige Spezialisierung sind die vorhandene Ressourcen in den Medizinrichtungen, also beispielsweise das vorhandene Fachpersonal mit Erfahrung bei der Behandlung der jeweiligen Krankheit oder die Ausstattung der Kliniken mit benötigter Medizintechnik. Ein Beispiel: Damit ein Krankenhaus nach der Reform einen Patienten mit einer schweren Virusinfektion behandeln darf, muss es unter anderem mehrere Fachärzte mit einer 24-Stunden-Rufbereitschaft beschäftigen, die in Mikrobiologie oder Virologie geschult sind. Die Klinik muss außerdem Isolationsbetten, spezielle Labore und Geräte wie CTs und MRTs bereitstellen. Viele Details dieser Kriterien stehen allerdings noch nicht fest.
Wirtschaftliche Fehlanreize bleiben bestehen
Doch lösen diese Vorschläge die Probleme des deutschen Krankenhauswesens? Experten sind skeptisch. Sie sagen, manche Ansätze seien gut, etwa dass künftig nicht mehr jedes Krankenhaus jede Krankheit behandle, auch wenn es dafür nicht die Expertise und Routine habe. Der Kern der Reform sei richtig, sagt etwa Axel Fischer, ehemaliger Klinikleiter und heute Gesundheitsökonom und Partner bei dem Prüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte. Er hält es für sinnvoll, das Krankenhauswesen zu zentralisieren und zu spezialisieren: "Man will nicht in jedes Krankenhaus mit einem Herzproblem eingeliefert werden, denn manchen Krankenhäusern fehlt die Routine bei der Behandlung. Da fährt man lieber etwas länger und wird besser behandelt", sagt Fischer.
Doch viele Gesprächspartner sind auch der Meinung, Lauterbachs Reform sei nicht zu Ende gedacht. Spricht man mit Wissenschaftlern, sagen sie, dass sie das System der Fallpauschalen nicht breche, sondern lediglich ihren Effekt verringere. "Von einer Abschaffung der Fallpauschalen kann keine Rede sein", sagt etwa der renommierte Gesundheitswissenschaftler Michael Simon. Er warnt: Wenn Krankenhäuser weiter zu 40 Prozent durch Fallpauschalen finanziert werden, dann blieben die alten Fehlanreize bestehen. Auch im neuen System seien manche Eingriffe profitabler als andere.
In der Praxis könnte das bedeuten, dass ein Krankenhaus, das sich zukünftig auf Herzchirurgie spezialisiert, wirtschaftlich besser bedient ist eines, das sich auf die Rheumatologie konzentriert. Eine Knieprothese könnte weiterhin lukrativer sein als wenn das gleiche Knie ohne Operation behandelt wird.
Besonders bei einer Sache sind sich die Experten einig: Die Krankenhausreform werde den Mangel an Ärzten und Pflegern an deutschen Kliniken nicht lösen. Simon warnt: "Lauterbachs Rechnung geht nicht auf. Für die Arbeitsbelastung des Personals ist nicht die Zahl der Krankenhäuser maßgeblich, sondern die Zahl der Patienten." In einer 2023 veröffentlichten Studie hatte Simon berechnet, wie viele Ärzte und Pflegekräfte Deutschland im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern beschäftigt. Die Bundesrepublik schneidet besonders im Vergleich zu Ländern wie Dänemark und der Schweiz schlecht ab.
In Deutschland musste ein Vollzeitangestellter in der Pflege im Jahr 2019 durchschnittlich etwa 53 Patienten versorgen, ein Arzt rund 119 vollstationäre Patienten. In der Schweiz hingegen waren es im gleichen Jahr nur 24 Patienten pro Pflegekraft und 62 Patienten pro Arzt; in Dänemark sogar nur 23 Patienten je Pfleger und 48 je Arzt. Der Gesundheitsexperte Simon warnt: Wenn nach Lauterbachs Reform so viele Patienten in Kliniken behandelt würden wie bisher, dann gäbe es weiterhin zu wenig Personal im deutschen Krankenhauswesen, selbst wenn mit Lauterbachs Reform Kliniken schließen und sich die Ärzte und Pfleger auf die verbleibenden Kliniken verteilen.
Pflegekräfte ziehen nicht einfach weiter
Fachleute sehen noch ein weiteres Problem. Lauterbach überschätze die Mobilität der Pflegekräfte. "Wenn Krankenhäuser regional schließen müssen, werden die Pflegekräfte im Regelfall nicht einfach wie ein Wanderzirkus in das nächste große Krankenhaus weiterziehen", sagt Gerald Gaß, der Vorsitzende des Branchenverbands Deutsche Krankenhausgesellschaft. Da überall Pfleger und Ärzte gesucht werden, könnten sie auch außerhalb der Krankenhäuser eine Arbeit finden, beispielsweise bei mobilen Pflegediensten oder in ambulanten Praxen. Auch der Deloitte-Berater Fischer machte diese Erfahrung: In seiner Zeit als Geschäftsführer der München Klinik wollte er zwei Abteilungen an einen anderen Standort verlegen. Er sagt: "Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer es war, die Mitarbeitenden dazu zu motivieren, in die Schwesterklinik innerhalb des gleichen Konzerns zu wechseln." Die beiden Standorte lagen nur wenige Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Fischer sagt, die Reform klappe nur, wenn das Krankenhauspersonal mitmache.
Trotz aller Kritik an seinem Vorhaben, gibt sich Lauterbach unbeirrt. Im Gespräch mit stern und RTL betet er beharrlich die Vorteile seiner Reform herunter und sagt: "Ohne die Krankenhausreform kämen wir überhaupt nicht klar. Wenn wir die wenigen Ärzte, die wir haben, nicht effizienter einsetzen, kommen wir nicht über die Runden" Damit liegt der SPD-Minister angesichts des aktuellen Krankenhausleidens wohl nicht falsch. Ob die Ärzte und Pfleger mitziehen, bleibt abzuwarten.
Der frühere Chef des Klinikkonzerns Helios Health, Francesco De Meo, sagt: Deutschland habe jetzt noch "die Chance und auch noch das Geld für eine echte Transformation". Aber wenn Lauterbachs Reform nicht sitze, "wird die Versorgung in Deutschland in spätestens zehn Jahren deutlich schlechter sein als heute".