Chinas Regime unterwandert westliche Gesellschaften tiefer als befürchtet. Ein ganzes Netzwerk chinesischer "Polizeistationen" vermutet das Investigativ-Team von RTL/ntv in Deutschland - und enttarnt die Methoden von Pekings Sicherheitsbehörden.
Ihre Stimme ist brüchig. "Jetzt, wo ich weiß, dass das eine geheime Polizeistation sein soll - fühle ich mich total unsicher", sagt die junge Frau, deren Wurzeln in Taiwan liegen. "Das macht mir wirklich Gänsehaut." Nervös spielen ihre Finger in der Luft, als sie die Ereignisse vom Juni 2024 wieder in ihr Gedächtnis ruft. Vor fünf Monaten war die zierliche Frau mit Bekannten zu einer Taiwan-Messe nach Berlin gekommen. Auf der Bühne wurde getanzt und musiziert, auch Politiker aus Deutschland waren anwesend, etwa der ehemalige Regierende Bürgermeister Michael Müller.
Es war eine freudige, bunte Werbeschau für die Inselrepublik, die für einige Stunden vergessen lassen konnte, dass sich Taiwan gerade in einem Überlebenskampf gegen das kommunistische Regime der Volksrepublik China befindet. Nach der Veranstaltung wollte die Gruppe um die junge Frau noch zusammen essen und ging in ein China-Restaurant. Ihre schweren Rucksäcke stellten sie neben sich am Tisch ab, mitten im Gastraum. Kurze Zeit später standen sie nicht mehr da. "Die waren wie vom Erdboden verschluckt", sagt die Frau. In den Rucksäcken - zwei Laptops, ein iPad und eine Kamera. "Da war alles drauf", so die Taiwanerin. "Wenn die in meine Mails gelangen, dann sehen die alle Kontakte, unsere Gespräche mit den Mitarbeitern der taiwanischen Botschaft zum Beispiel." Bei dem Restaurant handelte es sich um eine der mutmaßlichen Polizeistationen Chinas in Deutschland. Aber davon erfuhren die Bestohlenen erst viel später.
Im Herbst 2022 tauchten erste Berichte zu den sogenannten Polizeistationen auf. Die Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders mit Sitz in Madrid hatte Dutzende solcher Einrichtungen weltweit enttarnt, auch in Deutschland. Was sich kaum jemand vorstellen konnte, schien auf einmal Wirklichkeit. Das chinesische Regime hatte die westlichen Gesellschaften schon viel tiefer unterwandert, als bislang vermutet.
"Die überwachen hier einfach die Leute"
Bei den Polizeistationen handelt es sich nicht um klassische Wachen, wie man sie etwa aus dem Tatort kennt. Zumeist fungiert der Begriff als Chiffre - für eine Anlaufstelle der chinesischen Sicherheitsbehörden im Ausland. Hinter einer "Polizeistation" können sich tatsächlich spezielle Räume verbergen, die mit Beschriftung und Hoheitszeichen ausgestattet sind, wie es etwa in New York und Madrid geschah. Oft verbirgt sich dahinter ein Verein für Exilchinesen, manchmal auch nur eine einzelne Person oder eben ein China-Restaurant.
Die Einrichtung in Berlin tauchte schon vor zwei Jahren auf einer Liste der ostchinesischen Provinzstadt Lishui auf, wo sie als "Police Overseas Chinese Station" in Deutschland geführt wurde. Aufgelistet waren insgesamt fünf Einrichtungen für ganz Deutschland, neben der Hauptstadt weitere in Hamburg, Düsseldorf, München und eine im Ruhrgebiet. Als die Polizeistationen bekannt wurden, kam es zu einer Welle der Empörung. Im Bundestag musste sich das Innenministerium ausfragen lassen, irgendwann hieß es, die Stationen seien geschlossen.
Doch schon länger gibt es die Vermutung, dass die Strukturen weiter existieren. "Die Leute aus diesen Polizeistationen, die übernehmen verschiedene Aufgaben", sagt ein chinesischer Informant, der unerkannt bleiben will, zu RTL/ntv. "Zum Beispiel stalken die Kritiker, die gegen das Regime protestieren, machen heimlich Fotos oder schneiden Gespräche mit. Die überwachen hier einfach die Leute." In einer monatelangen Recherche hat RTL/ntv die Strukturen durchleuchtet und kam zu einem überraschenden Ergebnis. Vier der fünf Kontaktnummern auf der ursprünglichen chinesischen Liste der Polizeistationen sind noch immer aktiv. Hinter den Telefonnummern verbergen sich weiterhin die früheren Personen, die zuvor offiziell als "Verantwortliche" der Polizeistationen aufgeführt waren.
"Grober Bruch von internationalen Vereinbarungen"
Über einen chinesischen Lockvogel versuchen wir, mit einem der Ansprechpartner in Kontakt zu treten. "Hallo, ist da Herr …?", fragt er. "Ja", antwortet eine dunkle Stimme. Unser Helfer behauptet, er habe seinen chinesischen Pass verloren und bräuchte dringend einen neuen. "Wir können ihnen vielleicht helfen, wenn Sie Ärger bekommen", sagt da der Mann am anderen Ende. "Aber Pässe kann nur der Staat ausstellen." Wir wollen herausfinden, was mit Ärger gemeint ist und beschließen undercover in die Polizeistation zu gehen.
Um weniger aufzufallen, versuchen wir es diesmal mit einer Frau. Su Yutong ist eine chinesische Menschenrechtsaktivistin, sie geht für uns in das Restaurant und fragt nach dem Kontaktmann. Wenige Minuten später sitzen sie zusammen an einem Tisch. Als Su jedoch andeutet, sensible Informationen über mögliche Regimegegner zu haben, wird der Restaurantchef misstrauisch uns setzt sie vor die Tür. Dass er mit den chinesischen Machthabern verbunden scheint, belegen zumindest auch Fotos, die bei einer Veranstaltung in München aufgenommen wurden. An dem Symposium nahm auch der Berliner teil und traf sich dort mit hohen Vertretern des kommunistischen Regimes. Als er später mit den Recherchen konfrontiert wird, bestreitet er jedoch jegliche Zusammenarbeit.
Die undercover-Aufnahmen aus der mutmaßlichen Polizeistation legt RTL/ntv einem hochrangigen Vertreter des Inlandsgeheimdienstes vor. "Im Grunde zeigt das sehr deutlich, dass die ganze Sache einfach in Ruhe weiterläuft", sagt Stephan Kramer. Der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes beschäftigt sich schon länger mit der heimlichen Unterwanderung der deutschen Gesellschaft. "Offensichtlich hat die Empörung auch in der Öffentlichkeit nicht dazu geführt, dass die Stationen abgeschaltet wurden, sondern dass die Telefonnummern immer noch beantwortet werden", so Kramer weiter, "und teilweise, wie Sie in der Recherche gezeigt haben, eben auch von Leuten, die schon früher diese Telefonnummern innehatten, um damit zu agieren." Für den Verfassungsschützer steht damit fest, dass die geheimen Polizeistationen ihre Aktivitäten einfach weiterbetreiben. "Das ist illegal, gar keine Frage", sagt der Verfassungsschutz-Chef, "das ist ein grober Bruch auch von internationalen Beziehungen und internationalen Vereinbarungen."
Die Recherchen von RTL/ntv lassen ein ganzes Netzwerk von Stationen in Deutschland vermuten. Insgesamt neun angebliche Anlaufstellen entdeckt das Investigativteam. Neben den Einrichtungen der Stadt Lishui gibt es zwei Stellvertreter eines "Volksgerichtshofs", die offenbar als Kontaktpersonen für die dortige Staatsanwaltschaft fungieren. Eine Frau wird daneben als "Verbindungsbeamtin" für den "konsularischen Schutz" aufgeführt. Auch sie leitet ein China-Restaurant. Ein weiterer Gastronom arbeitet in einem Vorort von Bonn. Auf chinesischen Internetseiten ist er im Einsatz für das Regime zu sehen. Offenbar spielt er für die Kommunisten eine gewisse Rolle. Als der Bonner Restaurantchef mit den Recherchen konfrontiert wird, leugnet er jegliche Zusammenarbeit: "Ich habe mit der chinesischen Polizei gar nichts zu tun." Er räumt allerdings ein, dass er Hilfsarbeiten für die chinesische Botschaft übernommen hat. "Ich bin der Vorsitzende des Vereins der Wenzhou-Chinesen", sagt er. Als solcher unterstütze er, etwa wenn Landsleute ihren Pass verloren hätten oder beklaut worden seien. "Die rufen mich an, dann verbinde ich mit der chinesischen Botschaft."
"Ich finde das bedrohlich"
Für den Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter klingt das erst einmal ungewöhnlich. "Wieso kann der das?", fragt sich der CDU-Abgeordnete, "offensichtlich ist es eine Anlaufstelle für viele, weil er wohl aus Erfahrung spricht." Dass Landsleute in Notsituation die Telefonnummer des Restaurantchefs anrufen und der Verbindungen zur Botschaft unterhält, passt für Kiesewetter ins Schema. "Das ist ein Hinweis, dass es sich um eine Polizeistation handeln könnte, die ja gegenwärtig von der Bundesregierung geleugnet wird." Der Mann bestreitet vehement, dass er eine Polizeistation unterhält.
Zentral ist für den chinesischen Überwachungsapparat in Deutschland die Botschaft. In Berlin wurden Exilchinesen, die als Kontaktpersonen für die chinesischen Sicherheitsbehörden dienen, dort bereits zu Vernetzungstreffen empfangen, was weiterführende RTL/ntv-Recherchen belegen. Regimekritiker fürchten schon länger, dass sie auch in Deutschland engmaschig überwacht werden. "Überall sind chinesische Zivilpolizisten, die auch in der Bevölkerung mitlaufen und die Leute überwachen", sagt Dundup Donka, der Vorsitzende des Vereins der Tibeter in Deutschland. "Ich finde das bedrohlich und die Regierung in Deutschland muss das ernst nehmen."
Als RTL/ntv bei der chinesischen Botschaft dazu nachfragt, antwortet das Presseteam ausweichend. Es gebe in Deutschland keine Überwachung und Einschüchterung chinesischer Staatsbürger. "Solche reißerischen Behauptungen dienen nur der Verleumdung und Verunglimpfung Chinas", heißt es in der Antwortmail. "Wir hoffen, dass die deutschen Medien die Spreu vom Weizen trennen und sich nicht an der Verbreitung solcher Fiktionen beteiligen." Die Recherchen von RTL/ntv legen nahe, dass es sich bei den geheimen Netzwerken des chinesischen Regimes nicht um "Fiktionen" handelt.